Viele große Meisterwerke haben später einmal einen Spitznamen erhalten, der eigentlich gar nicht so gut zu ihnen passt - so auch die Zweite Violinsonate von Johannes Brahms: Für viele ist sie die "Meistersinger-Sonate". Julika Jahnke stellt sie gemeinsam mit dem Geiger Linus Roth vor.
Bildquelle: Christiane Jacobsen (Hrsg.): "Johannes Brahms: Leben und Werk", Hamburg 1983
Das starke Stück zum Anhören
Johannes Brahms hat insgesamt drei Sonaten für Violine und Klavier geschrieben - und jede von ihnen ist ganz einzigartig im Charakter. Die Violinsonate in A-Dur op. 100 ist das kürzeste dieser drei Werke. Sie entstand während der Sommermonate des Jahres 1886 in der Schweiz und wird auch die "Thuner Sonate" genannt. Brahms schrieb die Sonate inmitten der beeindruckenden Berglandschaft am Thuner See. Dieser Sommeraufenthalt des Komponisten war so fruchtbar, dass sogar er schon einen Spitznamen erhalten hat: Es ist der "Kammermusiksommer" von Brahms, in dem gleich mehrere Meisterwerke für Ensemblebesetzung entstanden. Die herrliche Landschaft des Berner Oberlands muss Brahms beim Komponieren sehr angeregt haben.
Linus Roth | Bildquelle: Linus Roth Doch in der Violinsonate Nr. 2 steckt noch viel mehr als die Eindrücke aus der Natur, die Brahms auf langen Spaziergängen oder Wanderungen gesammelt hat. Es wurden darin schon die Motive aus drei verschiedenen Liedern des Komponisten entdeckt. Und er soll sogar eine Oper von Richard Wagner zitiert haben: Die Melodie, die sich hier in Brahms' Sonate hineingeschlichen hat, ist Walthers Preislied "Morgendlich leuchtend" aus der Oper "Die Meistersinger von Nürnberg". Und so kommt es, dass sich vielfach sogar schon der Name "Meistersinger-Sonate" für dieses Werk verfestigt hat. Ob Brahms das gefallen hätte? Der Geiger Linus Roth ist sich jedenfalls nicht so sicher, was die angebliche Wagner-Konnotation des Themas angeht: "Ich glaube, es nimmt Bezug auf zwei, drei Noten, die im Meistersinger-Lied vorkommen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass Brahms das wirklich von Wagner übernommen haben soll. Das ist für mich ein bisschen weit hergeholt."
Wer jedenfalls in dieser Sonate nach Zitaten sucht, kann sich auch an Brahms' eigene Aussagen halten. Er selbst hat auf das 2. Thema des ersten Satzes hingewiesen: Es ist mit einem Lied verwandt, welches er ungefähr zur gleichen Zeit komponiert hat, mit dem Titel "Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn". Geschrieben hatte er es für die junge Sängerin Hermine Spies, für die Brahms damals schwärmte. Er selbst sagte, die Sonate habe er "in Erwartung der Ankunft einer lieben Freundin" geschrieben - und muss wohl die Sängerin damit gemeint haben.
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In der Violinsonate Nr. 2 hat Brahms beiden Instrumenten - dem Klavier und der Violine - gleichermaßen Raum gegeben. Immerhin war er selbst ein überaus virtuoser und erfolgreicher Pianist. Außerdem fällt auf, dass beide Instrumente die musikalische Entwicklung gleichstark vorantreiben: Er verabschiedet sich vom gängigen Modell "Melodie plus Begleitung". Stattdessen lässt er Violine und Klavier immer abwechselnd die Themen und Motive drehen und wenden und in neue Bahnen lenken. So bleibt es nun unserer Fantasie überlassen, wem bei der Premiere damals im Dezember 1886 in Wien mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde: dem Geiger Joseph Hellmesberger oder Johannes Brahms, der am Klavier saß.
Johannes Brahms: Violinsonate Nr. 2
Linus Roth, Violine
José Gallardo, Klavier
Label: Challenge