Gegen Ende seines Lebens schrieb Frédéric Chopin seine große Sonate in b-Moll – ein Stück, das nie zuvor gekannte Modulationen aufwies und die Welt staunen ließ. Nicht von ungefähr schrieb Robert Schumann : "Dass Chopin es Sonate nannte, möchte man eher eine Caprice heißen, wenn nicht einen Übermut, dass er gerade vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte". Der berühmte Trauermarsch, der lange vor den drei übrigen Sätzen komponiert war, hat der Sonate große Bekanntheit verliehen. Julia Smilga hat sich mit dem Pianisten Nikolai Tokarew über das Werk unterhalten.
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"Musik ist das nicht", schrieb Robert Schumann 1841 über das knapp über eine Minute dauernde Finale der b-moll-Sonate von Frederic Chopin. Und das bei aller Bewunderung für den Komponisten, den er zehn Jahre zuvor den Lesern seiner Musikzeitung mit den Worten vorgestellt hatte: "Hut ab, ihr Herrn – ein Genie!". Das Kopfzerbrechen über die Sonate b-Moll hält bis heute an. Und das ungewöhnliche Werk gibt ihre Geheimnisse nicht preis. Warum sind alle vier Sätze ausschließlich in Moll gehalten? Wieso verzichtet Chopin in der Reprise auf das obligatorische erste Thema? Und warum nimmt der berühmte Trauermarsch den zentralen Platz in der Sonate ein?
"Ein riesiger schwarzer Trauerzug. Eine lange Kette von Menschen. Und plötzlich reißt der Nebel auf. Ein Sonnenstrahl zwischen den dunklen Wolken! Und etwas entflammt in den ausgebrannten Herzen. Man beginnt an etwas zu glauben. Jemand singt, traurig und einfach. Dieses Lied verspricht nichts - und tröstet trotzdem..." So beschrieb der russisch-sowjetische Kulturpolitiker Anatoly Lunatscharskij den Trauermarsch aus Chopins b-Moll-Sonate. Der Trauermarsch ist wohl das berühmteste Werk in diesem Genre. Mit dieser Musik wurden viele Größen der Welt zu Grabe getragen – wie der amerikanische Präsident John F. Kennedy und der sowjetische Parteiführer Leonid Breschnew. Auch Chopin selbst wurde mit dieser Musik am Pariser Friedhof Père Lachaise beigesetzt.
Nikolai Tokarev | Bildquelle: picture-alliance / Eventpress Herrmann Der Trauermarsch entstand im Jahr 1837 – ganze zwei Jahre, bevor die drei übrigen Sätze der Sonate komponiert wurden. War es ein Nachklang auf die rücksichtslose Unterdrückung des polnischen Aufstandes gegen die Russische Besatzungsmacht? Oder die Trauer über die Unmöglichkeit, in die Heimat zurück zu kehren? Und – um wessen Tod geht es hier eigentlich? Der junge russische Pianist Nikolai Tokarew hat dafür seine eigene Erklärung: "Ich glaube, es ist nicht die Trauer über einen bestimmten verstorbenen Menschen, sondern ein Klagelied nach verloren gegangenen Gefühlen. Bei jedem sind es eigene, zutiefst persönliche Gefühle. Vielleicht hat man den Menschen längst verloren. Nein, er ist nicht tot – nur seit langem aus deinem Leben geschieden. Es ist ein Trauermarsch über die verschwundene Liebe. Die nie wieder zurückkommt. Und das einzige was einem bleibt, ist die Erinnerung an die Vergangenheit."
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September 1836. Der 27-jährige Chopin reist von Paris nach Marienbad, um sich dort mit seinen Eltern zu treffen. Er hat sie schon sechs Jahre nicht mehr gesehen, seitdem er aus Polen ausgewandert ist. Dort in Marienbad verliebt er sich in die siebzehnjährige Maria Wodzinska, Tochter eines reichen polnischen Adeligen. Chopin hält um ihre Hand an. Sein Antrag wird unter der Bedingung angenommen, dass er im Verlauf des folgenden Jahres seinen Lebensstil des wandernden Künstlers ändert und sich um seine schwache Gesundheit kümmert.
Chopins Retterin aus der Krise: George Sand | Bildquelle: picture-alliance/dpa Einen Monat später begegnet Chopin in Paris zum ersten Mal der damals zweiunddreißigjährigen George Sand. Seine erste Reaktion auf diese in Männerkleidung auftretende, Zigarren rauchende Frau war pure Ablehnung: "Was für eine unsympathische Frau sie doch ist! Ist sie denn wirklich eine Frau? Ich möchte es fast bezweifeln." Im Jahr drauf löst Familie Wodzinski die Verlobung zwischen Frederic und Maria. Chopin fällt darauf in eine tiefe Lebenskrise. Auf ein Bündel von Marias Briefen schreibt Chopin die Worte: "Mein Unglück". Kurz darauf entsteht sein berühmter Trauermarsch. Und es war keine andere als die sechs Jahre ältere George Sand, die Chopin aus seiner Krise herausholte und ihm sein seelisches Gleichgewicht wiedergab. Sie wurden ein Paar. 1839, zwei Jahre nach all diesen Ereignissen, komponiert Chopin auf dem Sommerlandgut von George Sand seine zweite Sonate Opus 35 in b-Moll.
Das erste Sonatenthema ist von solch jagender Nervosität gezeichnet, dass es fast wie eine Erlösung wirkt, wenn der schöne lyrische Gesang des zweiten Themas einsetzt. Ein großer dramatischer Konflikt findet so seinen Ausdruck. Er endet zwar mit einem vorläufigen triumphalen Sieg. Doch der zweite Satz greift sofort die verwirrende Unrast wieder auf und bannt den Hörer durch abrupte Wechsel von überstürzter Hast und sanften Ruhepunkten. In noch tiefere Abgründe der Hoffnungslosigkeit führt der dritte Satz – der Trauermarsch. Und das Finale ist vergleichsweise melodiearm. Es ist eine für beide Hände unisono gesetzte und im Presto-Tempo dargebotene Tonlinie. Ein Satz, über den Anton Rubinstein bemerkte: "Ein Raunen des Windes über den Gräbern".
Bei dem Reichtum der dargebotenen Tragik und der Fülle an Stimmungskontrasten ist es für einen Interpreten sicherlich nicht einfach, das Gefühl für die Form zu behalten. Nikolai Tokarew meistert die Aufgabe mit Bravour. Er offenbart eine glasklare Vorstellung von formalen Abläufen, versteht es, Spannung aufzubauen und diese zu halten, um mit dem Stück tatsächlich eine Geschichte zu erzählen. Das Geheimnis? "Ich spiele diese Sonate nicht zum "Herzzerreißen". Sie ist bei mir zurückhaltend und etwas verschleiert. Viele Pianisten erfinden in diesem Werk globale Dramen. Die gibt es dort eigentlich nicht. Es ist eine sehr persönliche, zutiefst intime Sonate. Vielleicht werden manche Kritiker mir dabei widersprechen. Ich spiele aber so, wie es mich berührt. Ob es schwer ist, das Formgefühl bei dieser Sonate zu behalten? Ist es eigentlich nicht, nur muss man die eigene Gedankenlinie immer im Kopf behalten. Wichtig ist, dass der Zuhörer eine Linie während der ganzen Sonate hört, die dann im vierten Satz gar nicht so glücklich zu Ende geht."
Frédéric Chopin:
Klaviersonate Nr. 2 b-Moll, op. 35
Nikolai Tokarev (Klavier)
Label: Sony Classical
Sendung: "Das starke Stück" am 1. Juni 2021, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK