"Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle!" Dies sagte Johannes Brahms über Antonín Dvořák. Themen und Melodien schienen nur so aus ihm herauszusprudeln. Symphonien, Lieder, Opern, später auch Symphonische Dichtungen, zuvor aber Streichquartette. Das letzte dieser Stücke – Opus 106 – ist eine typische böhmische Musik, scheinbar mühelos zu Papier gebracht. Doch auch der ständig schöpferische Komponist kannte schwere Zeiten. Wiebke Matyschok sprach mit Eckart Runge, dem Cellisten des Artemis Quartetts, über dieses Starke Stück.
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Am Anfang klingt es kaum. Nur ein leiser Hauch. Eher ein Nichts. Ein sanfter Windstoß? Eine Musik, die klingt zart und derb, tänzerisch und melancholisch, sprudelnd und heiter. Immer wieder fragend und dann wieder fast zerberstend. Eine Musik, die den Duft der Felder Böhmens atmet? "Ich erfreue mich der göttlichen Natur – und ich faulenze ständig und tue nichts. Sie werden sich vielleicht darüber wundern, aber es ist die Wahrheit – die heilige Wahrheit, ich bin ein Faulpelz und rühre die Feder nicht an", schrieb Antonín Dvořák 1895 nach seiner Rückkehr aus der Neuen Welt.
Es hatte keinen festlichen Empfang gegeben. Er hatte sich keinen gewünscht. Nur den Frieden von Vysoká, dem hochherrschaftlichen Landsitz eines Verwandten. Dvořák ging am liebsten in der Sommerfrische spazieren. Frühmorgens in der erwachenden Natur. Er freute sich an allem, was es in der Eile der großen Stadt und zwischen den Häuserschluchten New Yorks nicht gegeben hatte. Nun war er faul wie nie. Ungewohnte Faulheit. Und dabei ungewohnt guter Laune! Vielleicht aber trug er in der Sommerfrische von Vysoká schon den Gedanken an ein neues Streichquartett in G-Dur im Kopf herum.
Selbst als Musiker wird man nicht müde, dieses Thema zu hören und zu spielen.
Eckart Runge vom Artemis Quartett | Bildquelle: © Nikolaj Lund
Der zweite Satz, Adagio, dauert fast so lang wie der erste. Der langsame Satz als Mittelpunkt des Werkes? Adagio non troppo überschrieben. Langsam, aber nicht zu sehr. Es beginnt leise. Das Cello entfaltet eine feine Trauerklage, seltsam changierend zwischen Melancholie und Freude. "Musik sollte immer freudvoll sein, selbst wenn sie tragisch ist.", schrieb der Komponist Bohuslav Martinů viele Jahre später. Vielleicht war diese Musik ja ein Spiegel der Empfindlichkeiten und Empfindsamkeiten des Antonín Dvořák. Vielleicht war sie aber auch nur – Musik.
Eckart Runge sagt zu diesem Adagio: "Der zweite Satz ist unglaublich. Im Grunde passiert überhaupt nichts. Es wird das gleiche Thema immer wiederholt. Und trotzdem wird man nicht müde, dieses Thema zu hören. Selbst als Musiker wird man nicht müde, es zu spielen. Das Thema wird ja auch vom Cello vorgetragen. Geige und Cello wechseln sich so ein bisschen ab. Klar ist es was Herrliches, wenn man in der schönsten Cello-Lage solche Themen im vollem Umfang spielen kann wie im zweiten Satz."
Das letzte Amerikajahr? Dvořák war voller Sehnsucht nach der Heimat gewesen, eine Finanzkrise bedrohte seine Existenz, Sorgen um die Kinder in Prag. Der Komponist hatte in New York seine größten Erfolge erzielt. War Ehrenmitglied der New Yorker Philharmoniker geworden. Die Neunte Symphonie und das Amerikanische Streichquartett waren sofort ein Erfolg gewesen. Auf der Weltaustellung in Chicago war als Dirigent gefeiert worden. Dann geriet die Mäzenatin – Mrs. Thurber – infolge der Finanzkrise in Zahlungsrückstand. Zeitlebens sollte sie Dvořák mehrere Monatsgehälter schuldig bleiben. Zurück in der Alten Welt berichtete er bald: "Wir sind alle gottlob gesund und freuen uns, dass es uns nach drei Jahren wieder vergönnt ist, liebe und frohe Weihnachtsfeiertage in Böhmen zu genießen deshalb fühlen wir uns alle so unaussprechlich glücklich!"
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Er schätzte Dvořáks Musik: Arnold Schönberg | Bildquelle: picture-alliance / IMAGNO/Photoarchiv Setzer-Tschie | Franz Xaver Setzer "Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben", fand Johannes Brahms, der Fortschrittliche. Als dessen Erbe sollte sich später ein gewisser Arnold Schönberg sehen – Erfinder der Zwölftonmusik. Auch er war immer hellhörig für das Visionäre im Alten und voller Bewunderung für die Musik von Dvořák gewesen. Besonders da, wo sie an den Grenzen des Gewohnten zu rütteln schien. Dvořák, der Revolutionär? An manchen Stellen seines letzten Quartetts scheint sich der Komponist, der nicht als "böhmischer Musikant" gesehen werden sollte und vielleicht auch nicht wollte, sich in neues Terrain vorzuwagen. Da scheinen die Rhythmen aus dem Takt zu geraten, die Harmonien zu zerbersten.
Das Finale: ein Suchen, Zögern, Weitersuchen. Die Musik stolpert, kommt in Fahrt, die Töne geraten ins Tanzen. Und wieder ins Stocken. Immer wieder scheint es, als ob die Trauerklage aus dem zweiten Satz erinnert wird. Es war Dvořáks letzte Komposition "nur" für Instrumente. Der einst als "Vollblutmusiker" bewunderte Komponist wendet sich neuen Formen zu. Einer Musik, poetisch inspiriert von den Sagen der tschechischen Literatur. Es entstehen die Symphonischen Dichtungen "Der Wassermann", "Die Mittagshexe", "Das goldene Spinnrad", "Die Waldtaube". Für viele war es eine überraschende und späte Wendung weg von "absoluter" Instrumentalmusik, die niemand geahnt hatte. Oder vielleicht doch? "Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle."
Antonín Dvořák:
Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello G-Dur, op. 106, B 192
Artemis Quartett
Label: Virgin Classics
Sendung: "Das starke Stück" am 8. November 2022, 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK