Die Sonate mit dem Trauermarsch kennt (fast) jeder. Dabei ist Frédéric Chopins Dritte Klaviersonate mindestens ebenso bedeutend. Das sah der Komponist ebenso und gab ihr den Beinamen "Konzert ohne Orchester". Kristin Amme stellt dieses Starke Stück zusammen mit Ingolf Wunder, Preisträger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2010, vor.
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"Das Klavier ist mein zweites Ich." Dieses berühmte Zitat von Frédéric Chopin ist mehr als nur eine Randbemerkung – es ist ein Postulat, ein Credo. In seinem gesamten musikalischen Schaffen ist das Klavier der Dreh- und Angelpunkt. Umso erstaunlicher ist es, dass Chopin neben zahlreichen Mazurken, Préludes und Nocturnes lediglich drei Klaviersonaten komponiert hat. Die Dritte Klaviersonate op. 58 h-Moll zählt zu den größten Werken Chopins. Fünf Jahre vor seinem Tod entstanden, gehört sie zu den reiferen Werken des mit 39 Jahren früh verstorbenen Komponisten. Ingolf Wunder, Chopin-Preisträger von 2010 und pianistischer Senkrechtstarter, der erst mit 14 Jahren das Klavier für sich entdeckte, hat die Sonate eingespielt.
"Die Dritte Sonate von Chopin ist so interessant für uns, weil sie so kompakt ist, sehr viel klassischer orientiert ist als zum Beispiel seine Zweite Sonate", sagt Wunder zur h-Moll-Sonate. "Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass man sie als Ganzes rüberbringt, dass man nach dem Stück das Gefühl hat, alles passt zusammen. Und das ist nicht ganz so einfach, wenn man das Scherzo ansieht. Es hat so einen ganz anderen Charakter als der dritte Satz oder auch der Kopfsatz."
Chopin hat eine ganze neue Ära eingeleitet.
1844, fünf Jahre vor Chopins frühem Tod, entsteht ein Werk, das so farbenreich und monumental ist wie kaum eine andere Komposition des Polen. Chopin gibt ihr den Beinamen "Konzert ohne Orchester". "Chopin hat das Klavier irgendwie revolutioniert", erklärt Ingolf Wunder. "Vor ihm hat niemand Fingersätze so verwendet oder den Klavierklang ausgereizt, wie er es getan hat. Chopin hat eine ganze neue Ära eingeleitet. Für das Klavier ist er wahrscheinlich sogar der idealste Komponist, den es je gegeben hat."
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Frédéric Chopin komponiert fast ausschließlich für sein Lieblingsinstrument, fast 200 Kompositionen widmet er dem Klavier. Dennoch finden sich in seinem umfangreichen Oeuvre lediglich drei Sonaten. Zu übermächtig und unauslöschlich thront das Erbe der Wiener Klassik in den Hinterköpfen der Romantiker: die nach einem strengen Formschema verfassten Klaviersonaten von Haydn, Mozart und Beethoven. "Die Dritte Sonate, weil sie auch seine reifste ist, geht ein bisschen zurück in die klassischen Formen, viel mehr als die Zweite", sagt Ingolf Wunder. "Man hat aber auch Unterschiede – zum Beispiel, wenn man den zweiten Satz hernimmt: Dieses Schwirrende, dieses Flirrende in den ersten Teilen kommt ja am Ende wieder. Und dann gibt es in der Mitte diese fast sakrale Themaführung und Melodieführung, die dann in verschiedene Stimmen ausartet und in sich zusammenkommt. Das sind Dinge, die man in einer klassischen Sonate natürlich nicht findet. Wenn man sie aber klassisch interpretiert, bekommen sie einen ganz neuen Reiz."
Der Pianist Ingolf Wunder | Bildquelle: Ingo Pertramer Nach seiner ungestümen Ersten Klaviersonate aus Jugendtagen und seiner aufsehenerregenden, zukunftsweisenden Zweiten – der mit dem Trauermarsch – richtet Chopin das Augenmerk in seiner letzten Sonate erstmals stärker auf die klassische Sonatenform. Ihr Aufbau erinnert an die Werke der Vorbilder. Doch Chopin, Freigeist und Querdenker, lotet zugleich die Grenzen der Sonatenform neu aus: Da, wo sonst ein langsamer Satz kommt, findet sich bei Chopin ein lebendig-bewegtes Scherzo mit perlenden Achtel-Figuren: "Bei Chopin gibt es eben diese Diskrepanz zwischen Freiheit, Klang und Rubato", erklärt Wunder. "Und dennoch: Alles in eine klassische Form zu bringen, ist die Schwierigkeit bei allen Chopin-Stücken. Und das ist anders als bei jedem anderen Komponisten. Man muss nach jedem Teil, den man interpretieren will, das Gefühl haben, es musste genauso sein."
Frei, intuitiv und gefühlsbetont ist Chopins Umgang mit den musikalischen Mitteln. Seine Dritte Klaviersonate brennt vor romantischem Pathos. Ernste musikalische Figuren und zarte Melodielinien erzeugen eine geradezu meditative Stimmung. Doch am Ende lichtet sich die Schwermut dann doch: Im Finale mündet die Sonate in einen ungezügelten, rauschhaften Ausbruch. "Chopin ist mir so nahe, weil seine Musik sehr emotional ist", fasst Ingolf Wunder sein Verhältnis zu dem großen Romantiker zusammen. "Mit jeder Phrase, mit jedem Auftakt, mit jeder Wendung stellt er ein Gefühl dar, und wenn man das nicht kommuniziert, dann ist das uninteressant, dann wird es nicht gut sein. Und ich glaube, das ist das Wichtigste bei Chopin."
Chopin ist mir so nahe, weil seine Musik sehr emotional ist.
Frédéric Chopin. Daguerreotypie, Paris 1849 | Bildquelle: picture alliance / akg-images Ein ganzes Kaleidoskop unterschiedlicher Emotionen ist diesem Spätwerk eingeprägt – der Komposition eines genialen Poeten, wie Heinrich Heine 1837 schwärmt: "Ja, dem Chopin muss man Genie zusprechen, in der vollen Bedeutung des Worts; er ist nicht bloß Virtuose, er ist auch Poet, er kann uns die Poesie, die in seiner Seele lebt, zur Anschauung bringen, er ist Tondichter, und nichts gleicht dem Genuss, den er uns verschafft, wenn er am Klavier sitzt und improvisiert. Er ist alsdann weder Pole, noch Franzose, noch Deutscher, er verrät dann einen weit höheren Ursprung, man merkt alsdann, er stammt aus dem Lande Mozarts, Raffaels, Goethes, sein wahres Vaterland ist das Traumland der Poesie."
Frédéric Chopin
Klaviersonate Nr. 3 h-Moll, op.58
Ingolf Wunder (Klavier)
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Das starke Stück" am 03. November 2020, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK