Zwischen 1938 und 1946 - acht lange Jahre - schrieb Sergej Prokofjew an dieser Sonate. Das Werk entstand in einer Zeit stalinistischer Kulturpolitik und spiegelt die bedrohliche Atmosphäre dieser Epoche wieder.
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Das starke Stück zum Anhören
Wie an einem dunklen Ort in einem Krimi beginnt Prokofjews Erste Violinsonate op. 80. Das Klavier bewegt sich schrittweise in getragenem Portato, die Geige reagiert mit vereinzelten Seufzern. Einen brillianten Einstieg, wie in der klassischen Sonate üblich, gibt es für die Violine nicht. Geigerin Sarah Christian vermisst einen solchen aber auch nicht: "Das ist Farbe und Spannung von Anfang an."
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Und dann folgt die als "Friedhofsstelle" bekannte Passage, in der die Töne der Geige in raschen Legato-Läufen dahinhuschen; es klingt so, als hätte man die düstere Kulisse eines Gräberfeldes vor sich. "Ich sehe zwar keine Bilder, aber man spürt schon eine gewisse Kälte, wenn das kommt", erklärt Sarah Christian diese Passage. "Also diese statischen Akkorde, die ja eigentlich wunderschön romantisch sind, aber in einer unerbittlichen Rhythmik vor sich hinlaufen, ohne eine wirklich Phrase - und dazu diese Tonleitern, eiskalt. Eine unglaubliche Stelle!"
Sarah Christian | Bildquelle: BR/Daniel Delang Ganz anders als dieses fahle, entrückte "Andante assai" entfaltet sich das "Allegro brusco" des zweiten Satzes. Klavier und Geige wechseln sich ab im pochenden Ostinato. Diese Musik symbolisiert für Sarah Christian die vom Spitzelsystem unterdrückte Gesellschaft, in der die einzelnen Individuen versteckter Gewalt und Kontrolle ausgeliefert sind - Klänge aus einer Zeit, in der Europa durch Stalinismus und Nazidiktatur geprägt war und in dem Künstlerseelen nur in beklemmender Lebenssituation überleben konnten. "So ganz angstfrei wird sich Prokofjew nicht aufgehalten haben in Russland, das glaube ich auch", sagt die Geigerin. "Im dritten Satz hört man das aber nicht so, da habe ich das Gefühl, das ist ein Traum - raus aus der hässlichen Realität."
Dieser dritte Satz, Andante, ist ein stimmungsvolles Notturno, in dem die Violine eine zarte, ausdrucksvolle Melodie intoniert. Doch auch in diesem Satz ist nicht alles eitel Sonnenschein: "Ich habe da immer so ein Bild von einer Kopfsteinpflasterstraße mit einer Laterne, ganz weit entfernt", schildert Sarah Christian ihre persönlichen Eindrücke von dieser Musik. "Und irgendeiner armen Person, die wartet, von der Polizei abgeholt zu werden."
Für mich ist das so eine Art Kosakentanz.
Das Finale "Allegrissimo" hebt sich noch einmal deutlich von den vorangegangenen Sätzen der Sonate ab durch seinen Wechsel vitaler Motive und heftiger Akkorde. "Für mich ist das so eine Art Kosakentanz", sagt Sarah Christian. "Ich weiß nicht warum, aber das ist so meine Vorstellung: sehr rhythmisch, sehr verschoben irgendwie." Im weiteren Verlauf des Finales tauchen Motive der vorhergehenden Sätze auf, etwa die "Friedhofstelle" aus dem Kopfsatz. Es ist ein bisschen, wie wenn man - von Angst befreit - beflügelt wird, bevor das Beklemmende der Vergangenheit zurückkommt und Prokofjews Violinsonate im Fahlen und Unbestimmten endet, wie sie begonnen hat.
Sergej Prokofjew:
Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 f-Moll, op. 80
Sarah Christian (Violine)
Lilit Grigoryan (Klavier)
Label: Genuin
Sendung: "Das starke Stück" am 20. Februar 2018, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK