"Sofort", "überraschend", "aus dem Augenblick heraus" – das sind einige der Übersetzungsvorschläge, die ein Wörterbuch für das Wort "Impromptu" bereithält. Von Franz Schubert stammen die berühmtesten Werke mit dieser Bezeichnung, und einen improvisatorischen Gestus haben sie allemal. Über die vier Impromptus op. 90, D 899 hat Bernhard Neuhoff mit dem großen Schubert-Interpreten András Schiff gesprochen.
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"Heitere Musik? Ich kenne keine heitere Musik!" hat Franz Schubert einmal geschrieben. Kaum ein anderer Komponist spricht so unmittelbar existenzielle Gefühle an, kaum eine andere Musik geht tiefer unter die Haut. "Es gibt wirklich diese Gänsehaut-Stellen bei Schubert", bestätigt der Pianist András Schiff. "Da bekommt man einen Herzinfarkt – nicht nur beim Spielen, sondern schon, wenn man das hört." Für Schiff ist Schuberts Musik ein Rätsel. So eng verschlungen sind hier Tod und Leben, liebliche und düstere Stimmungen, Idylle und Entsetzen.
Diese Musik findet draußen statt, nicht im Zimmer.
Die Vier Impromptus Deutschverzeichnis 899 schrieb Schubert im Sommer 1827, ein Jahr vor seinem Tod. In ihrer Abfolge erinnern die Stücke durchaus an eine Sonate: Zu Beginn ein balladenhaftes Allegro, dann ein tänzerisches Scherzo, das Chopins "Minutenwalzer" vorwegzunehmen scheint. Als dritter Satz folgt ein Andante, das wie Schubert'sches Lied klingt – ein Lied ohne Worte. Und als Finale ein bewegliches Allegretto, dessen Sechzehntel-Kaskaden an einen Wasserfall erinnern, bei dem die Tropfen in der Sonne funkeln. "Da sieht man wirklich die Natur", erklärt András Schiff. "Es ist sehr bildhaft komponiert. Man weiß, dass Schubert ein sehr naturliebender Mensch war, der sehr gern wanderte. Diese Musik findet draußen statt, nicht im Zimmer."
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Wenn András Schiff seinen Studenten in einem Meisterkurs Schuberts Impromptus erklärt, dann spricht er von nahen und fernen Klängen, von wechselnden Perspektiven, von Wolken und Landschaften. Wer diese Musik technisch bewältigt hat, was auch schon keine kleine Sache ist, kann sie deshalb noch lange nicht spielen. Entscheidend ist die poetische Ebene, die Bilder und Assoziationen im Kopf des Hörers auslöst, so András Schiff: "Die Poesie, die Literatur, die Geschichte, die Philosophie, die Bildenden Künste – wer nicht neugierig ist auf diese Erkenntnisse, der kommt nicht weiter. Und das hat mit Üben nichts zu tun."
Schubert denkt auf Deutsch und schreibt auf Deutsch
András Schiff | Bildquelle: © Nadia F. Romanini / ECM Records Schuberts Musik, davon ist Schiff überzeugt, hat ihr Kraftzentrum in seinen Liedern. Auch seine Symphonien, seine Quartette und seine Klaviermusik seien eigentlich Lieder ohne Worte: "Ob er nun Symphonien schreibt oder Klavierstücke – das Liedelement ist immer vorhanden." Für einen Sänger sei es selbstverständlich, sich auch mit dem Text auseinanderzusetzen. Deutsch-Kenntnisse könnten bei Schubert, um es vorsichtig zu sagen, zumindest nicht schaden, meint András Schiff. Und das gelte auch für die Klaviermusik: "Schubert denkt auf Deutsch und schreibt auf Deutsch". Wenn die Töne etwas erzählen, ja buchstäblich sprechen sollen, dann kann es hilfreich sein, sich einen Text auszudenken und den Noten zu unterlegen – diesen Rat gibt Schiff seinen Studenten. Und darum braucht man nicht nur flinke Finger, um Schuberts Impromptus zu spielen, sondern vor allem viel Phantasie – Klangphantasie, damit das Klavier, dieser mechanische Großapparat, Dinge tut, die es eigentlich gar nicht kann: singen und sprechen zum Beispiel. Wenn man die Impromptus richtig spielt, dann klingt der Flügel mal wie ein Bariton, mal wie eine Posaune.
Doch auch die Strukturen sollte man verstanden haben, die unregelmäßigen Phrasen, die Formverläufe und vor allem die kühne Harmonik. "Manchmal kommen die Leute nach einem Schubert-Konzert zu mir und sagen 'Das war ganz allerliebst", berichtet András Schiff. "Aber diese Musik ist nicht allerliebst!" Das gilt für den Pianisten besonders für den erbarmungslos negativen Schluss des Es-Dur Impromptus. Zunächst beginnt das Stück so idyllisch – aber am Ende heißt es "Nein! Nein!" So empfindet es zumindest András Schiff.
Aber ist das wirklich der ganze Schubert? Spricht diese Musik wirklich pausenlos von seelischen Abgründen, Frost, Fremdheit? "Mit dieser Musik ist für mich ein erhebendes Gefühl verbunden", antwortet András Schiff. "Selbst Schuberts dunkelste Stücke haben etwas Wohltuendes. Und ich kenne viele Leute, die diese Musik hören, wenn sie krank sind. Sie gibt ihnen Trost."
Franz Schubert:
Vier Impromptus für Klavier op. 90, D 899
András Schiff (Klavier)
Label: Decca
Sendung: "Das starke Stück" am 24. Januar 2023 um 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK