Moskau, 14. November 1979. In der "Literaturnaja Gazeta", der sowjetischen Staatszeitung für Kultur, erscheint eine Hetz-Kampagne mit der Überschrift "klop", zu deutsch: Wanze. Unter dem Titel "Armselige Fälschung“ schreiben zudem einstige Schüler und Weggefährten von Dmitrij Schostakowitsch einen offenen Brief über Lügen und Intrigen. Was war geschehen, vier Jahre nach dem Tod des wohl größten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts?
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Zwei Wochen zuvor war in Amerika auf englisch ein Buch erschienen, der Titel: "Testimony. Zeugenaussage. Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch, herausgegeben und aufgezeichnet von Solomon Volkov." Was Volkov, ein enger Freund Schostakowitschs, da aufgezeichnet, über die Grenze geschmuggelt und im amerikanischen Exil publiziert hatte, entsprach so gar nicht dem bisherigen Bild des Komponisten, nicht dem westlichen, vor allem aber nicht dem offiziellen sowjetischen. Volkov schildert den öffentlichkeitsscheuen, zurückhaltenden, im gesprochenen Wort stets diskreten, diplomatischen Künstler als kämpferischen Revoluzzer gegen die Sowjetmacht, als Don Quichote des künstlerischen Widerstands, als Trutzburg gegen die ästhetische Dummheit des Totalitarismus. Scheinbar hat Schostakowitsch immer, wenn er ein Kapitel gegengelesen hatte, dasselbe abgezeichnet mit den Worten: "gelesen, DSCH". Volkov benutzte das als Beweis für die Echtheit der Aussagen. Außerdem hat Schostakowitsch ihm ein Foto mit persönlicher Widmung geschenkt: "Dem lieben Solomon Moijssejewitsch Volkov zur guten Erinnerung. D. Schostakowitsch, 16.11.1974. In Erinnerung an die Gespräche über Glasunow, Soschtschenko, Meyerhold. D.SCH."
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Solomon Volkov | Bildquelle: picture-alliance/dpa Der Westen ist skeptisch: "Schostakowitsch gegen Volkov: Wessen Zeugenaussage?", fragt die britische Musikwissenschaftlerin Laurel Fay. Schostakowitschs Frau Irina und sein Sohn Maxim, die das Buch auf englisch nicht lesen können, lassen die New York Times eilig wissen: "Volkov traf Dmitri drei oder viermal, er war nie ein Freund der Familie." Am heftigsten jedoch sind die Reaktionen in Moskau. Die sowjetische Funktionärsriege, Jahrzehnte zuvor wiederholt nicht zimperlich im Umgang mit dem Komponisten, sieht ihr heiles Schostakowitsch-Bild posthum bröckeln. Also lancieren Breschnews Kulturschergen Kommentare, mit dem Ziel, Volkov zu diskreditieren und die Memoiren als Fälschung zu entlarven, "als Lügengebräu aus den Händen von Geschäftsleuten und anderen Schurken". Angeblich der Versuch, "das edle Antlitz des großen Komponisten und leidenschaftlichen Patrioten zu zerstören, sein Leben und Werk in den Schmutz zu ziehen".
Wer hat recht? Jahrzehnte später wird den Meister der subversiven musikalischen Doppelbotschaften niemand mehr ernsthaft als linientreuen Patrioten, niemand ihn als donnernden Oppositionellen bezeichnen. Volkovs Buch verwundert im Tonfall noch heute und hat uns doch einen Zugang zu Schostakowitsch ermöglicht, der eine Lesart von mehreren ist. Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, dazwischen…
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