Leningrad, 29. September 1969: Auf dem Konzertprogramm des Moskauer Kammerorchesters steht die neue Symphonie von Dmitrij Schostakowitsch. Es ist seine 14. Symphonie, sein Opus 135. Formal äußerst ungewöhnlich: elf Sätze, elf Gedichte. Und alle haben dasselbe Thema: den Tod.
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"De profundis", "Der Selbstmörder", "Im Kerker der Santé", "Der Tod des Dichters" – so lauten die Satztitel der neuen, knapp einstündigen Symphonie für Kammerorchester, Sopran und Bass. Schostakowitsch hat sie seinem Freund Benjamin Britten gewidmet. Entstanden ist sie in einer Phase zunehmender Krankheit und Schwäche.
1. Adagio. De profundis (Federico García Lorca)
2. Allegretto. Malagueña (Federico García Lorca)
3. Allegro molto. Loreley (Guillaume Apollinaire nach Clemens Brentano)
4. Adagio. Der Selbstmörder (Guillaume Apollinaire)
5. Allegretto. Auf Wacht (Guillaume Apollinaire)
6. Adagio. Sehen Sie, Madame! (Guillaume Apollinaire)
7. Adagio. Im Kerker der Santé (Guillaume Apollinaire)
8. Allegro. Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel (Guillaume Apollinaire)
9. Andante. An Delwig (Wilhelm Küchelbecker)
10. Largo. Der Tod des Dichters (Rainer Maria Rilke)
11. Moderato. Schlussstück (Rainer Maria Rilke)
Im Januar und Februar 1969 lag Schostakowitsch mit Besuchsverbot im Krankenhaus unter Quarantäne. Was blieb? Lesen. Gedichte von Rainer Maria Rilke, Federico García Lorca, Wilgelm Karlowitsch Kjuchelbeker, Guillaume Apollinaire – sie wurden zur Inspirationsquelle und damit zum Fundament der 14. Symphonie, einem von Schostakowitschs düstersten, schwärzesten und abgründigsten Werken. Der Tod ist überall präsent in dieser Symphonie: mal grell, mal fratzenhaft hässlich, mal nachdenklich, mal grenzenlos traurig und tief verzweifelt. Egal mit welchem Gesicht er schaut, für Schostakowitsch ist der Tod immer endgültig, folgenlos und unerlöst.
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Die Sopranistin der Uraufführung: Galina Wischnewskaja
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Mstislaw Rostropowitsch (l.) und Alexander Solschenizyn (r.)
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Der Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnjew
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Dmitrij Schostakowitsch
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Es ist erstaunlich, dass die Uraufführung der 14. Symphonie keinerlei offiziellen Protest nach sich zog. Denn das Werk entsprach mit seiner nihilistischen Attitüde doch so gar nicht der verordnet optimistischen Ästhetik des unter Leonid Breschnjew immer noch geltenden "Sozialistischen Realismus". Vielleicht waren die hochkarätigen und arrivierten Künstler, unter ihnen die Sopranistin Galina Wischnewskaja – Ehefrau von Mstislaw Rostropowitsch und langjährige Weggefährtin Schostakowitschs –, dem Komponisten eine Art Schutzschild gegen die sowjetische Funktionärswillkür? Einen hat diese 14. Symphonie allerdings doch entsetzt: Der tiefgläubige Schriftsteller und Bürgerrechtler Alexander Solschenizyn brach mit Schostakowitsch: So fände man keine gemeinsame Sprache über das Ende des Lebens.
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Schostakowitsch: 14. Sinfonie ∙ hr-Sinfonieorchester ∙ Värelä ∙ Kares ∙ Klaus Mäkelä
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Sendung: "Allegro" am 29. September 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK