Wychwatinez, Gouvernement Podolje, heute Ukraine, damals Russland, 28. November 1829. Anton Rubinstein wird geboren. 113 Kompositionen mit, 33 ohne Opuszahl wird das Werkverzeichnis am Ende seines Lebens aufweisen. Symphonien, Kammermusik, Opern. Kantaten, Ballettmusiken, Lieder. Das einzige Stück jedoch, das noch heute alle von den Dächern pfeifen, dauert gerade einmal drei Minuten und heißt "Melodie in F".
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Anton Rubinstein, im 19. Jahrhundert eine der zentralen Figuren der Musikgeschichte in West- und Osteuropa, saß sein Leben lang zwischen den Stühlen: "Den Juden bin ich ein Christ, den Christen ein Jude. Den Russen bin ich ein Deutscher, den Deutschen ein Russe, den Klassikern ein Zukünftler, den Zukünftlern ein Retrograder usw. Schlussfolgerung: ich bin weder Fisch noch Fleisch – ein jammervolles Individuum." So beklagte er sich selbst. Rubinstein war jedoch auch ein Tausendsassa - mit Energie für mindestens fünf: Künstler, Komponist, Ideengeber. Freidenker, Individualist, Charismatiker. "Viel Feind, viel Ehr", könnte als Motto über einem Leben stehen, das noch 150 Jahre später überall seine Spuren hinterlässt, auch wenn selten sichtbar der Name "Anton Rubinstein" mit ihnen verknüpft ist.
Anton Rubinstein ist ein Genie am Klavier, hat Pranken wie ein Löwe, Finger so flink wie ein Wiesel und sieht mit seinem wallenden Haar mindestens so geheimnisvoll und magisch aus wie eine Mischung aus Beethoven und Paganini. Wenn Rubinstein auftritt, in Europa, daheim in Russland und übrigens als erster Russe auch in Amerika, fallen die betuchten Damen in den vorderen Reihen der großen Konzertsäle scharenweise in Ohnmacht. "Die besten Pianisten heutzutage sind allesamt Russen, mit Anton Rubinstein an der Spitze", schreibt anerkennend sogar der Musikkritiker und Intimfeind Vladimir Stassov. "Rubinstein war ohne Zweifel eine titanische Persönlichkeit sogar unter Seinesgleichen. Allein sein Auftreten hatte immer schon einen Hauch Exklusivität." Praktisch eine Frühform der Beatles-Mania, wäre da nicht parallel Franz Liszt gewesen. Den kennt noch heute jeder.
Anton Rubinstein als Dirigent | Bildquelle: picture-alliance/dpa Im internationalen Vergleich steht es um die russische Musikausbildung im 19. Jahrhundert schlecht: wenig professionelle Lehrer, keine eigene Tradition, keine Institutionen. Keine Kurse, keine Räume, keine Abschlüsse. Anton Rubinstein sieht viel Gutes in Europa und ist entsetzt über die Zustände in Russland. Unermüdlich wirbt er für professionelle Verhältnisse, gebündelt in einem Konservatorium in Sankt Petersburg. Rubinstein singt sein Jammerlied öffentlich und so lange auch den Mächtigen im Zarenreich vor, bis ihn die kulturbegeisterte Großfürstin Elena Pavlovna Ende der 1850er Jahre erhört und unterstützt. Unter dem liberalen Zaren Alexander II. entsteht eine Atmosphäre der Kreativität und Aufgeschlossenheit; Rubinstein gründet 1859 die "Russische Musikalische Gesellschaft" und mit Hilfe vieler einflussreicher Unterstützer 1862 in Sankt Petersburg endlich das erste russische Konservatorium. Unmengen prominenter Musiker werden hier studieren:, Peter Tschaikowsky, Sergej Prokofjew, Dimitrij Schostakowitsch und Anna Netrebko zählen zu den Absolventen des Instituts. Benannt allerdings ist das Konservatorium in Sankt Petersburg nach Rubinsteins Schüler Nikolaj Rimskij-Korsakow. Den kennt noch heute jeder.
Anton Rubinstein komponiert unermüdlich, schreibt über 100 Werke, tummelt sich in allen Gattungen: Klaviertrio, Symphonie, Oratorium. Herzensangelegenheit ist ihm die Oper: "Ich denke nur an die Oper, studiere nur die Oper, träume nur von einem möglichen Erfolg der Oper und von seinen Konsequenzen", schreibt er 1852 an seine Mutter. Da arbeitet er gerade an seinem Erstling, "Dmitrij Donskoj", und bekommt wegen des Sujets gleich massive Probleme mit der Zensur. 1852 findet in Sankt Petersburg die Uraufführung statt. Es folgt "Das Verlorene Paradies" nach Stuart Milton, das Franz Liszt 1858 am Hoftheater Weimar aus der Taufe hebt.
Anton Rubinsteins Meisterwerk ist "Der Dämon", eine dramatische Geschichte vergleichbar Wagners "Fliegendem Holländer". Im Mariinskij-Theater in Sankt Petersburg beginnt 1875 der Siegeszug: "Die Musik ist durch und durch fein, apart und original. Voll von Anmut erfüllter Melodik in den freundlichen Partien des Werkes erhebt sich die Musik mit der tragischen Wendung zu ergreifender Tonmalerei, und die Krone der Oper - das große Duett zwischen Dämon und Tamara - gehört jedenfalls zum Genialsten und Bewunderungswürdigsten, was Rubinstein überhaupt geschaffen", heißt es über das Werk. Es folgen: Hamburg, London, Leipzig, Prag, Moskau, Berlin, Dresden und sämtliche slawischen Metropolen wie Kazan, Odessa, Riga und Kiev. 1899 holt Gustav Mahler den "Dämon" an die Hofoper in Wien. Am Mariinskij-Theater schafft es das Stück in einem Jahrzehnt auf mehr als 100 Vorstellungen, in der russischen Operngeschichte wird es eins der meistgespielten Bühnenwerke. Knapp hinter Peter Tschaikowskys "Eugen Onegin". Den kennt noch heute jeder.
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