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Ekaterina Semenchuk in "Cavalleria rusticana" "Das ganze Leben in einem Augenblick"

Ursprünglich wollte Ekaterina Semenchuk Ärztin werden, doch schon bald war klar, dass sie für den Gesang geschaffen war. Mit 15 Jahren ging sie ans Konservatorium, heute ist sie ein Star. In der New Yorker Premiere der "Cavalleria rusticana" am 13. Januar singt sie die Partie der Santuzza. Wie sie zu dieser Rolle steht - und warum man nur auf die Bühne gehen sollte, wenn man es ersnt meint -, verrät die russische Mezzosopranistin im Interview.

Bildquelle: Ken Howard/Metropolitan Opera

Das Interview in voller Länge zum Anhören

BR-KLASSIK: Heute Abend erleben wir Sie live in der Partie der Santuzza in Piwetro Mascagnis "Cavalleria rusticana". Wie Verdis Amneris in der "Aida" ist Santuzza am Ende eine Verliererin in diesem wilden Eifersuchtsdrama. War für eine Person, was für ein Charakter ist die Santuzza?

Ekaterina Semenchuk: Für mich sind beide keine Verliererinnen. Denn wenn man jemanden aus ganzem Herzen liebt, kann man nicht verlieren. Auch wenn man mit einem gebrochenen Herzen zurückbleibt. Amneris und Santuzza sind zudem noch schuld am Tod ihrer Geliebten.

BR-KLASSIK: Was für eine Person die Santuzza für Sie?

Ekaterina Semenchuk: Santuzzas Persönlichkeit ist in anderer Weise komplex als die der Amneris. Ihre Geschichte ist kürzer, aber sehr intensiv. Amneris' Geschichte können wir im Verlauf der Oper mitverfolgen. Sie beginnt mit ihrem vagen Verdacht und endet in der schieren Verzweiflung, in der Zerstörung ihrer selbst und des anderen. Wie bei Olga in "Eugen Onegin" oder Polina in "Pique Dame" wissen wir auch von Santuzza und Amneris nicht, was danach mit ihnen passiert. Aber genau hier beginnt das Drama. Sie haben aus Dummheit ein geliebtes Leben zerstört und müssen später mit dieser Schuld leben.

Mascagni hat die Santuzza im Stil des Verismo gezeichnet, also nah am wirklichen Leben.
Ekaterina Semenchuk

BR-KLASSIK: Santuzza verflucht ihren Geliebten, den Jungbauern Turridu. Ihre Leidenschaft expodiert. Was heißt das für Santuzza?

Szene aus Cavalleria Rusticana/Pagliacci an der Metropolitan Opera New York | Bildquelle: Ken Howard/Metropolitan Opera Szene aus "Cavalleria Rusticana/Pagliacci" an der Metropolitan Opera New York; Ekaterina Semenchuk als Santuzza | Bildquelle: Ken Howard/Metropolitan Opera Ekaterina Semenchuk: Ich möchte nochmal auf die Parallelen zwischen Santuzza und Amneris eingehen. Mascagni hat die Geschichte der Santuzza im Stil des Verismo gezeichnet, also ganz nah am wirklichen Leben. Hier wird das wahre Leben in einem sizilianischen Dorf wiedergespiegelt, der normale Alltag, voller Leidenschaft. Bei Amneris ist die Situation ganz anders. Ihre Geschichte entwickelt sich über vier Akte hinweg, mit allen dramatischen Wendungen. Sie kann ihre Liebe nicht so einfach gestehen, wie Santuzza. Die ist ganz direkt: "Du liebst mich nicht, aber ich liebe Dich. Und Du darfst mich nicht verlassen, und wenn Du es tust, musst Du sterben." Amneris versucht Radames zu retten. Für Santuzza liegt das Leben Turiddus in der Hand des Schicksals. Sie zeigt keinerlei Reaktion, als Alfio Turiddu herausfordert, sie betet nicht für sein Leben. Sie glaubt fest daran, dass sein Tod richtig ist. Das gehört zu ihrer Welt. Santuzzas Tragik spielt sich in nur einem Akt ab. Wir erleben einen Tag, den Ostersonntag, sozusagen ein ganzes Leben in einem Augenblick. Äußerst intensiv. Das ist Verismo in Reinkultur. Für mich ist Mascagnis "Cavalleria rusticana" das Paradebeispiel für die veristische Oper.

In dieser Oper wird die süditalienische Atmosphäre wirklich eins zu eins wiedergegeben.
Ekaterina Semenchuk

BR-KLASSIK: Wer den Text des Duetts zwischen Santuzza und Turiddu nicht versteht, der könnte glauben, dass es sich hier um ein Liebesduett handelt.

Ekaterina Semenchuk: Für Santuzza geht es nur um ihre Liebe zu Turiddu. Es interessiert sie nicht, dass Turiddu nicht sie liebt, sondern Lola. Das begreift sie einfach nicht. Und sie versteht auch nicht, warum Lola wieder etwas mit Turiddu anfängt. Er fühlt sich von ihr total bedrängt und hat überhaupt keine Luft zum Atmen. Deswegen belügt und betrügt er sie. Das ist leider eine sehr typische Situation. In dieser Oper wird die süditalienische Atmosphäre, die Leidenschaft und das Temperament wirklich eins zu eins wiedergegeben. Es ist wahnsinnig schwer, sich unter Kontrolle zu haben, wenn man die Santuzza singt. Viele trauen sich gar nicht, Verismo zu singen. Selbst Kollegen mit wirklich mächtigen Stimmen. Sie singen lieber Verdi, weil sie Angst davor haben, schreien zu müssen.

BR-KLASSIK: Wann haben Sie diese Oper das erste Mal gehört?

Szene aus Cavalleria Rusticana/Pagliacci an der Metropolitan Opera New York | Bildquelle: Ken Howard/Metropolitan Opera Szene aus "Cavalleria Rusticana/Pagliacci" an der Metropolitan Opera New York; Ekaterina Semenchuk als Santuzza | Bildquelle: Ken Howard/Metropolitan Opera Ekaterina Semenchuk: Ich singe die Santuzza jetzt hier an der MET zum ersten Mal. Ich habe diese und andere Opern schon als kleines Kind gehört. Meine ganze Familie liebt Musik, Symphonik, Opern, Jazz, traditionelle russische Lieder. Musik stand schon immer im Zentrum unseres Lebens. Erst vor ein paar Monaten hat mir meine Großmutter erzählt, dass meine Mutter schon ziemlich bald nach meiner Geburt gesagt hat, dass ich Sängerin werden würde. Meine Stimme war von Anfang dafür gemacht. Ich habe schon ganz früh gesungen. Es wurde sehr bald klar, dass ich singen würde. Mit 15 Jahren habe ich meine Ausbildung am Konservatorium begonnen. Ich war total glücklich, als mein Professor meinte: "Gar nicht so schlecht". Um mein Ziel zu erreichen, nämlich als Solistin am Mariinsky Theater aufzutreten, musste ich viele Jahre arbeiten. Auch heute noch kehre ich immer wieder ins Mariinsky zurück. Es ist meine Heimat, das Theater, das mich zur Sängerin machte. Ich liebe dieses Opernhaus, und die Menschen dort lieben mich auch. Es ist sehr wichtig, dass wir alle, die wir an einem Opernhaus arbeiten, uns als Team fühlen. Nicht nur die auf der Bühne, sondern alle, ob hinter der Bühne, in der Garderobe oder wo auch immer.

Man sollte nur auf die Bühne gehen, wenn man etwas zu sagen hat.
Ekaterina Semenchuk

BR-KLASSIK: Gab es also für Sie von Anfang an keine andere Entscheidung, in einem anderen Beruf zu arbeiten - oder doch?

Ekaterina Semenchuk: Ich wollte Ärztin werden, weil wir viele Ärzte in unserer Familie haben. Aber die Musik ist doch das Wichtigste für mich. Ich glaube, dass wir Sänger eine ganz besondere Gabe haben. Wir sollten unsere Stimme für ein höheres Ziel einsetzen, für das Gute und die Harmonie. Man muss immer alles geben und so singen, als sei es das letzte Mal. Und man sollte nur auf die Bühne gehen, wenn man etwas zu sagen hat.

BR-KLASSIK: Ist es ist die Musik, die sie immer wieder auf die Bühne treibt?

Ekaterina Semenchuk: Bei jeder Vorstellung und bei jedem Konzert gibt es andere Motivationen. Hier während der Vorstellungen der "Cavalleria" freue ich mich auf die Kollegen wie Roberto Alagna und Nicola Luisotti, mit dem ich schon sehr oft zusammengearbeitet habe. Daraus kann man auch Energie schöpfen. Es hängt also immer von der jeweiligen Situation ab.

BR-KLASSIK: Was machen Sie zum Entspannen, wenn Sie mal einfach frei haben?

Ekaterina Semenchuk: In Salzburg habe ich nach den Proben Malfarben und Papier gekauft. Oder ein Puzzle von Salzburg aus 1.000 Teilen. Zusammen mit meiner Schwester habe ich es sogar fertiggemacht. Sonst lese ich gerne, ich interessiere mich für Literatur und für gute Filme - von Wim Wenders, Werner Herzog, Federico Fellini oder Francois Truffaut. Das ist auch große Kunst. Ein Bespiel dafür ist "Wozzeck" von Herzog. Ich habe den Film als Studentin gesehen. Als ich dann die Partitur von Alban Berg studiert habe, fiel mir sofort auf, wie genau alles aufeinanderpasst. Das ist Kunst.

Wir sollten mit uns im Reinen sein.
Ekaterina Semenchuk

BR-KLASSIK: Wie sieht die tägliche Arbeit für sie als Sängerin aus, und was ist für Sie das beste am Sängerdasein?

Ekaterina Semenchuk: Wir sollten mit uns im Reinen sein. Manchmal reagiert man einfach zu sensibel auf das, was andere sagen. Sie meinen es oft vielleicht gar nicht böse. Die innere Zufriedenheit ist etwas sehr Wichtiges. Und man sollte jeden Tag üben, um immer bereit zu sein.

Sendung: Live aus der MET am 13. Januar 2018, 18:59 Uhr auf BR-KLASSIK

"Cavalleria rusticana" an der MET

Piero Mascagni: "Cavalleria rusticana"
Melodramma in einem Akt in italienischer Sprache
Metropolitan Opera New York
Premiere: 13. Januar 2018

Mitwirkende:
Santuzza - Ekaterina Semenchuk
Turiddu - Roberto Alagna
Alfio - George Gagnidze
und andere
Metropolitan Opera Orchestra
Leitung: Nicola Luisotti

Außerdem wird aufgeführt:
Ruggero Leoncavallo: "I Pagliacci"

Infos zu Mitwirkenden und Terminen auf der Homepage der MET

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