Umberto Giordano nannte seine Oper zwar "Andrea Chénier", doch die zentrale Figur in dem Werk ist der Revolutionär Carlo Gérard. An der Bayerischen Staatsoper ist der Bariton Luca Salsi in dieser Rolle zu erleben - für ihn die schönste Baritonpartie überhaupt. Im Interview spricht er über die innere Zerrissenheit dieses Charakters und die musikalischen Herausforderungen, denen er sich als Sänger stellen muss.
Bildquelle: © Fabrizio de Blasio
Bariton Luca Salsi als Gérard
Die schönste Baritonpartie
BR-KLASSIK: Luca Salsi, wann sind Sie erstmals mit der Oper "Andrea Chénier" in Kontakt gekommen?
Luca Salsi: Vor zwei Jahren habe ich hier "Lucia di Lammermoor" mit Diana Damrau und Kirill Petrenko gesungen. Nach dem ersten Akt kam Intendant Bachler in meine Garderobe und fragte mich: "Haben Sie im März 2017 noch Zeit?" Ich antwortete: "Ja, ich bin noch frei. Warum?" "Weil Sie hier die Neuproduktion von 'Andrea Chénier' mit Jonas Kaufmann und Anja Harteros singen sollen!" Ich habe mich bedankt und war sehr glücklich. Diese Oper mochte ich schon immer. Ich finde, dass meine Rolle die interessanteste der ganzen Oper ist. Schon allein wegen ihrer historische Bedeutung. Im Zusammenhang mit der Figur des Andrea Chénier und der Französischen Revolution ist Carlo Gérard der Dreh- und Angelpunkt in der Oper. Er hat die Revolution initiiert.
BR-KLASSIK: Was macht für Sie den Charakter dieser Figur aus?
Bildquelle: © Fabrizio de Blasio Luca Salsi: Gérard ist die Hauptfigur dieser Oper. Bei Andrea und Maddalena geht es um die Liebesgeschichte, aber nicht um die Französische Revolution. Gérard ist eine sehr komplexe Figur. Er wurde als Diener sehr unterdrückt, was ihn wütend gemacht hat. Das brachte ihn dazu, zusammen mit anderen armen Leuten diese Revolution zu entfachen. Aber er ist auch in Maddalena verliebt. Man muss also beide Seiten von ihm darstellen. Der wichtigste Akt für mich ist der 3. Akt. Da fühle ich diese großen Widersprüche in meinem Inneren. Ich habe diese Revolution gegen Andrea Chénier angezettelt, aber ich liebe Maddalena. Sie bittet mich um Hilfe und um die Rettung von André Chenier. Doch das will nicht. Ich liebe sie zwar, aber er ist der Feind der Revolution. Das ist ein schwerer Konflikt. Gérard ist eine sehr interessante, politische Figur, die eine sehr wichtige Rolle in diesem Drama spielt. Die Oper heißt zwar "Andrea Chénier", aber sie könnte auch "Die Revolution" heißen, denn es geht ja eigentlich um die Französische Revolution.
Ich werde mein Bestes geben, diese Figur möglichst facettenreich zu gestalten.
BR-KLASSIK: Vielleicht wäre "Gérard und die Französische Revolution" ein guter Titel?
Luca Salsi: Genau, lassen Sie uns den Titel ändern (lacht). Nein, nein , das darf ich nicht sagen. Sonst heißt es, ich bin eingebildet und ich will unbedingt der Wichtigste in der Oper sein. Das bin ich nicht. Aber ich werde mein Bestes geben, diese Figur möglichst facettenreich zu gestalten. Die Anfänge der Revolution, die Liebe zu Maddalena, bis hin zu dem Moment, als er versteht, dass Andrea Chénier doch ein guter Kerl ist, der mit der Revolution sympathisiert. Er wird sein Freund und versucht sogar, ihn zu retten. Trotz seiner Liebe zu Maddalena. Aber sein Kampf gilt einem größeren Ziel. Er kämpft für sein Heimatland.
Unglückliche Liebe
BR-KLASSIK: Da ist aber ein Punkt: Gérard missbraucht seine neue Macht und bekommt immer mehr Ähnlichkeit mit Scarpia in Puccinis "Tosca" …
Luca Salsi: Scarpia will Tosca nur besitzen. Er will Macht über sie haben. Sie ist für ihn lediglich ein Objekt. Er will nur ihren Körper. Gérard dagegen liebt Maddalena wirklich. Der große Unterschied zwischen Scarpia und Gérard liegt in der Liebe. Gérard hat sich schon als junger Mann in Maddalena verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er denkt aus der Ferne immer nur an sie. Das ist eine wunderbare Liebe. Denn sie sind sich ja nie begegnet. Nur einmal ganz am Anfang, als er noch ein Diener war - da hat sie ihn aber gar nicht beachtet. Scarpia hingegen will Tosca nur wegen Sex. Und weil sie Cavaradossi liebt. Aber Liebe ist ihm egal. Er will sie nur für einmal. Ich glaube, Gérard hingegen liebt Maddalena wirklich. Aber er gelangt zu einem Punkt, an dem er nichts mehr von dieser Liebe wissen will. Er hat begriffen, dass sie Andrea Chénier liebt. Als er ihre Geschichte hört, die sie in ihrer Arie "La mamma morta" erzählt, ist er wirklich ergriffen. Ich halte ihn für einen guten Menschen. Das unterscheidet ihn von Scarpia. Der ist kein guter Mensch.
Es gibt nicht eine Stelle für Gérard, von der man sagen könnte, sie sei nicht schön.
BR-KLASSIK: Sie geben nun an der Bayerischen Staatsoper Ihr Rollendebüt als Gérard. Was ist für Sie wichtig, was hat Ihnen Giordano in die Partitur geschrieben?
Luca Salsi: Die Partie des Gérard in Andrea Chénier gehört zu den erstrebenswertesten Rollen für einen Bariton. Es ist die schönste Baritonpartie überhaupt. Die Arie "Nemico della patria" will jeder Bariton singen. Ich habe immer davon geträumt, diese Arie im Kontext der gesamten Oper singen dürfen. Und sie hier an diesem wunderbaren Haus zu singen, mit all den tollen Kollegen, einer fantastischen Besetzung, einem sehr guten Dirigenten und einem sehr guten Regisseur - da wird ein Traum Wirklichkeit. In dieser Partitur gibt so volle wunderschöne Momente. Umberto Giordano hat auch die kleinen Phrasen für den Bariton großartig komponiert. Es gibt nicht eine Stelle für Gérard, von der man sagen könnte, sie sei nicht schön. Ich bin jedenfalls sehr glücklich, dass ich diese Partie singen kann. Und ich hoffe, dass es ein großer Erfolg wird.
BR-KLASSIK: Gibt es dennoch in dieser Partie eine besondere musikalische Herausforderung?
Luca Salsi als Carlo Gérard | Bildquelle: Bayerischen Staatsoper/Wilfried Hösl Luca Salsi: Die ganze Oper ist natürlich anspruchsvoll. Die letzte Arie "Nemico della patria" ist meine größte Herausforderung. Mit dieser Arie steht und fällt die ganze Vorstellung. Wenn man sie gut singt, bekommt man ganz viel Applaus, wenn nicht … Denn jeder kennt diese Arie. So wie "La mamma morta" und das "Improvviso" des Tenors. Giordano hat hier allerdings eine durchgehende Oper komponiert. Vielleicht machen wir hier eine Pause nach dieser Arie, wenn das Publikum applaudiert. Aber es wird sehr interessant sein, die Oper in einem durch zu spielen, so wie Giordano sie geschrieben hat.
Die Kette der Großmutter
BR-KLASSIK: Gibt es etwas, das Sie an einem Premierenabend als Ritual pflegen?
Luca Salsi: Es gibt kein richtiges Ritual, aber ich denke immer an meine Kinder und daran, dass ich für sie singe. Sie geben mir viel Kraft. Ich denke auch an die Menschen, die nicht mehr bei mir sind, wie meine Großeltern. Ich trage immer eine Kette von meiner Großmutter, die vor zwei Jahren gestorben ist. So ist sie immer bei mir, wenn ich singe. Das ist mein Ritual.
Die Fragen stellte Dorothea Hußlein für BR-KLASSIK.