SWEET SPOT.
Neugierig auf Musik
Bildquelle: Felix Broede Sony Music Entertainment
Mit großen durchdringenden Augen blickt Lucas Debargue vom Cover seiner brandneuen CD. Lockenkopf, auffällige Hornbrille und Oberlippenbärtchen machen das Bild komplett. Klavier-Nerd oder eher Klassik-Hipster? Bei Konzerten taucht Lucas gerne auch mal mit lässig aufgeknöpftem Hemd und viel zu großem Jackett auf. Fliege und gebügelter Anzug bleiben definitiv im Kleiderschrank.
Das Auftreten des 25-jährigen Franzosen ist in der doch manchmal sehr steifen Klassik-Szene eher unkonventionell – aber nicht nur das, auch die Art und Weise wie er bekannt geworden ist, ist alles andere als gewöhnlich. 2015 war Lucas Debargues großes Jahr: Als Teilnehmer des berühmten Tschaikowsky-Wettbewerbs in Moskau ist er auf dem vierten Platz gelandet. Zwar nur haarscharf am Podest vorbei, aber eben doch "nur" der vierte Platz. Das Publikum und die Presse hätten ihn gerne ganz vorne gesehen. Moskaus Musikkritiker verliehen Lucas sogar als Protestreaktion demonstrativ den Kritiker-Preis. Auch die Jury war sich uneinig über die Entscheidung und hat sich seinetwegen ordentlich gefetzt.
Bildquelle: Felix Broede Sony Music Entertainment Der Fall Lucas Debargue erinnert an eine ganz ähnliche Geschichte aus dem Jahr 1980: Ivo Pogorelich wurde damals beim Chopin-Wettbewerb nicht für die Endrunde zugelassen – Jurorin Martha Argerich war so wütend darüber, dass sie fuchsteufelswild die Jury verließ. Ganz so dramatisch war es bei Lucas zwar nicht, einen "Mini-Skandal" gab es aber auch bei ihm: Der Dirigent Valery Gergiev war so entsetzt über die Entscheidung der Jury, dass er Lucas gegen die Wettbewerbsregeln beim Preisträgerkonzert spielen ließ – als "nur" Viertplatzierten.
Den Franzosen hat der ganze Trubel um seine Person aber nicht wirklich interessiert. Nach dem Finale hat er erst ganz entspannt hinter der Bühne ein paar Jazz-Standards auf dem Klavier gezockt.
Sowohl bei Pogorelich als auch bei Lucas Debargue ging die Karriere nach den "verpatzten" Wettbewerben erst so richtig los. Und auch musikalisch kann man durchaus Parallelen zwischen den Beiden ziehen: beide sind extreme Freigeister. Der Kroate Pogorelich ist vor allem für seine individuelle Gestaltung und kreativen Ansätze bekannt – Tempo-Angaben sieht er schon mal nur als Richtwert und nichts, woran man sich tatsächlich halten müsse.
Bildquelle: Felix Broede Sony Music Entertainment Das ist auch bei Lucas Debargue ab und zu ähnlich: Seine Interpretationen klingen oft wie spontane Einfälle, es wirkt nicht komplett durchgeplant, sondern aus dem Moment heraus.
Zugegeben: die Stückeauswahl seiner Debüt-CD, die ein Live-Mitschnitt aus dem Pariser Salle Cortot ist, ist nicht unbedingt einfallsreich. Hier tummeln sich die großen Hits der Klavierliteratur – Moment Musicale von Schubert, Gaspard de La Nuit von Ravel, Sonaten von Scarlatti. Einen kleinen Überraschungseffekt gibt's trotzdem noch am Ende: eine Variation von Lucas selbst über eine der Scarlatti-Sonaten. Trotz der bekannten Stücke wirkt die CD aber nicht austauschbar, sondern sehr individuell. Der Franzose spielt mit einer grandiosen Leichtigkeit, selbst die schwersten Passagen wie bei Gaspard de la Nuit haut er einem in einer Perfektion um die Ohren, dass es dem Zuhörer schwindelig wird.
Manche Stellen wie bei Schuberts Moment Musicale wirken dagegen schon fast etwas zu glattgebügelt in ihrer Perfektion, das reißen aber andere Werke wie der Mephisto-Walzer von Liszt definitiv wieder raus. Das Highlight der CD ist aber – völlig unabhängig von den Stücken – ganz klar der Anschlag von Lucas: extrem präzise und glockenklar lässt er das Klavier singen. Manchmal vergisst man doch glatt, welches Stück da eigentlich läuft, und verliert sich in den durchdringenden und gleichzeitig weichen Klavierklängen.
Das Fazit: schräger Typ, coole CD, unbedingt anhören!
Lucas Debargue: Scarlatti, Chopin, Liszt, Ravel
Label: Sony Classical
VÖ: 8. April 2016