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Buchtipp – David Geringas Sag das niemandem

Ein Buch über einen Cellisten ohne Musik … ist wie ein Formel-1-Rennen ohne Ferrari. Geht, aber ist fad. Ausnahmen bestätigen die Regel. "Sag das niemandem" ist so eine Ausnahme. FAZ-Feuilletonredakteur Jan Brachmann und der Cellist David Geringas kennen sich bereits über 20 Jahre. Ein gemeinsames Buch schwebte ihnen schon länger vor. Die beiden haben viele Stunden gesprochen – über Boccherini-Konzerte und Musikpreise, über Pädagogen und litauische Musik. Was dabei herauskam, ist nun herausgekommen unter eben diesem Titel: "Sag das niemandem."

Buch-Cover "Sag das niemanden" | Bildquelle: Wolke-Verlag

Bildquelle: Wolke-Verlag

Zugegeben, ich öffne das Buch ein bisschen skeptisch. Knapp 400 Seiten über den Cellisten David Geringas. Das scheint eher was für Streicher-Nerds zu sein. Also mache ich mich auf einen Parforceritt durch die wichtigsten Stationen in Geringas Lebens gefasst. Öffne mir ein Bier, um mich entsprechend bierernst mit Bogentechniken, Darmsaiten, musikalischen Einflüsse, Lehrtätigkeit und ausgewählten Tiefpunkten im Leben des litauischen Cellisten zu befassen. Gewiss alles sauber und penibel recherchiert, so dass am Ende vermutlich die Auszeichnungen "Mitarbeiter des Monats" für den Autor Jan Brachmann und "Cellist des Monats" für David Geringas herausspringen.

KURZ UND BÜNDIG

Dieses Buch wird lieben, wer …
… gerne zuhört, wenn Wörter klingen.

Dieses Buch liest man am besten …
… von der ersten bis zur letzten Seite, weil es einen nicht los lässt.

Dieses Buch ist wie geschaffen für …
… alle, die bislang nicht viel mit Cello, Darmsaite und Kasachstan anfangen konnten.

Unglaubliche Lebensreise eines Cellisten

Aber, es kommt anders. Komplett anders. Hier nimmt mich ein Mensch, der "zufällig" auch noch sehr gut Cello spielt, mit auf seine unglaubliche Lebensreise als Reise des Lernens. In Vilnius, Litauen, wird er geboren, macht in Moskau Station, tingelt mit Cello kreuz und quer durch die Sowjetunion, außer ins kirgisische Frunze. Dem Ort hat er nichts zu sagen. Er emigriert 1976 nach Deutschland, wo er bis heute lebt. Geringas profitiert von der fundierten Ausbildung für junge sowjetische Talente, von der engmaschigen Vernetzung der Konservatorien. Aber er wird auch immer wieder vom "System" drangsaliert. Spione mit der "Lizenz zum Petzen" lauern selbst unter Musikern und Studentinnen.

Wir nannten sie Klopfer. Sie haben bei den öffentlichen Organen angeklopft. Und die Behörden aufmerksam gemacht.
David Geringas

Alles erforschen und erlernen

Geringas lernen wir kennen als einen Forscher und Eroberer: Er lernt die Bassdomra und die Balalaika im Alexandrow-Ensemble spielen, als er beim sowjetischen Militär dient. Oder das exotische Saiteninstrument Baryton, als es ihm zufällig im Exil begegnet. Er beißt sich unverbissen durch die Möglichkeiten der Phrasierungen bei Bach, probiert neueste Musik in Lockenhaus beim Festival vom Geiger Gidon Kremer, spornt zeitgenössische Komponisten in Litauen an. Ihn erschreckt nicht die Wucht von Krzysztof Pendereckis Cellokonzert, das undurchdringliche Chaos in den Noten von Ernst Krenek. Allem und Allen kann er etwas abgewinnen. Fast allem, außer sozialistischen Absurditäten: "Die Geschichte der KPdSU, man musste wissen, wann welcher Parteitag stattgefunden hat." Überhaupt, das Sowjetsystem - Geringas verflucht es zwar nie, aber beschreibt doch viele verzweifelte Momente: Als dem Cellisten Mischa Maisky der Prozess gemacht und der dann ins Arbeitslager geschickt wird.

"Man warf Mischa vor, sich illegal Valuta beschafft zu haben. Er wollte sich ein Aufnahmegerät beschaffen. Um Valuta einzutauschen, brauchte man viele Rubel. Einen Teil davon lieh sich Mischa von mir."

Tipp von der Tante

Eine wichtige sowjetische Überlebensstrategie bekommt David Geringas von einer Tante zugeflüstert. Gehalten hat sich der innerlich manchmal glühende Geringas daran nicht immer, aber der Imperativ wurde zum Titel des Buches: "Sag das niemandem, hörst du, niemandem!" Was sich in diesem Wörtchen das alles verbergen kann, ist mindestens so uneindeutig wie die Launen einer Forelle. Seine Kraft schöpft David Geringas aus dem Zusammensein mit Freunden, Familie und Lehrern. Also lernt man natürlich auch Mstislav Rostropowitsch ausführlich kennen.

Er konnte auf dem Klavier sprechen wie in seiner Muttersprache Russisch. Vom Cello gar nicht zu reden.
David Geringas über Mstislav Rostropowitsch

Wenn David Geringas von seiner Kollegin Jaqueline du Pré schwärmt, skizziert er uns die englische Cellistin auf einer halben Seite so plastisch, dass sofort ein Film abläuft, den man nicht mehr vergisst.

"Und da rannte das große Baby, – ja so war sie – von der Bühne auf die Eingangstür zu, nur um mich zu umarmen. Sie hat mich verschluckt, in ihre Arme tauchen und verschwinden lassen!"

Die Frage nach der Identität

Geringas erzählt mit Wortwitz, mit Charme, er begegnet Menschen mit Verantwortungsgefühl, Wärme und Chuzpe, erhebt sich nie über andere in moralischer Überlegenheit. Und ist trotzdem keiner vom Typ "Grinsekatze".

So erfahren wir, dass er mal einen wichtigen Mäzen mit dem Hausdiener verwechselt hat - kann schon passieren. Dass er HSV-Fan ist und Bayern München nicht ausstehen kann … ok. Geschenkt. Im Mittelpunkt bleibt für ihn immer die Frage nach seiner Identität. Das hört auch nicht auf, als er den renommierten Tschaikowsky-Preis in der Tasche hat und der Rubel längst rollt, mit Konzertreisen und unzähligen CD-Einspielungen.

"In Litauen war ich kein Litauer, in Russland kein Russe und in Deutschland bin ich kein Deutscher. Ich weiß nicht, was ich bin. Aber ich trage im Herzen die Liebe zu meiner jüdischen Familie, zu Russland, dem Land meiner musikalischen Kultur, die Liebe zu Deutschland als dem Land, das mir nach meiner Emigration alles gegeben hat.

Unbekümmert wie ein Grashüpfer

Jan Brachmann hat David Geringas für das Buch umfassend ausgefragt. Und er hat ihn ausreden lassen! Manchmal kommt es einem vor, als ob der Cellist beim Erzählen ungezwungen, wie ein Grashüpfer von dünnen Halmen zu dicken Stängeln springt. Und genau diese spontanen Gedanken-Sprünge, die hat Brachmann mit besonderer Genauigkeit aufgeschrieben, als wären sie wertvolle Verzierungen in einem Boccherini-Cello-Konzert. Nie verliert Brachmann dabei das Gefühl für den großen Melodiebogen. Den treibt er mit einem sachte pochenden Erzählrhythmus voran. Solche kleinen Eskapaden in den Lebenserinnerungen sind es, die uns den Cellisten David Geringas im Buch "Sag das niemandem" im buchstäblichen Sinne "ausgesprochen" vertraut machen.

Also: Nichts da "bierernste Lektüre", wie vermutet. Eher: Das nächste Bier gemeinsam mit Geringas, Brachmann und Boccherini geht auf mich.

Infos zum Buch

David Geringas
Sag das niemandem
Lebenserinnerungen eines Cellisten
aufgeschrieben von Jan Brachmann

Wolke -Verlag
376 Seiten
34 Euro

Sendung: "Allegro" am 17. August 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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