Anders als viele Maestros seiner Generation, wollte Claudio Abbado die Musiker nicht zu blindem Gehorsam, sondern zur freien Entfaltung musikalischer Ideen anregen. Er förderte junge Talente durch die Gründung mehrerer Jugendorchester und setzte sich beharrlich für die zeitgenössische Musik ein. Autor Wolfgang Schreiber spürt in seiner neuen Biographie dem Lebensweg des italienischen Dirigenten nach.
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"Es ist die außergewöhnliche Stärke, mit der Berg uns sein Mitgefühl mit dem Leiden der Anderen vermittelt, die die Größe seiner Oper ausmacht", sagte Claudio Abbado über den von ihm so sehr geschätzten "Wozzeck" von Alban Berg. Es ist eines der wenigen Zitate, die Wolfgang Schreiber in seiner Biographie über den Dirigenten bietet. Das ist schade, aber auch nicht verwunderlich. Denn Interviews hat Abbado zeitlebens höchst ungern gegeben und auch sonst hielt er sich mit Wortmeldungen vornehm zurück. Was er zu sagen hatte, sagte er lieber durch die Musik, die er gerade aufführte. Abbados früherer Assistent, der Dirigent Daniel Harding, erinnert sich: "Man sah ihm alles an, aber es wurde nicht formuliert. Seine Idee war es, sich als Dirigent selbst überflüssig zu machen."
Ein Maestro mahnt zur Ruhe - "der stille Revolutionär" Claudio Abbado dirigiert die Berliner Philharmoniker in Köln. (1997) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Keine leichte Aufgabe, über einen so verschwiegenen Künstler eine Biographie zu schreiben. Dafür, dass Wolfgang Schreiber es dennoch getan hat, gebührt ihm Dank und Anerkennung. Denn nicht nur Abbados Bedeutung als Dirigent, sondern auch als engagierter Gründer und Förderer von Orchestern oder als innovativer Erneuerer ehrwürdiger Musikinstitutionen wie der Mailänder Scala oder der Wiener Staatsoper verdient Anerkennung. Sein Einsatz für die Musik als geistig-emotionale Kraft für möglichst jeden Menschen hebt Wolfgang Schreiber besonders hervor. Gleiches gilt für das Ziel des Maestros, seine Musiker nicht zum Gehorsam, sondern zur Freiheit zu animieren: "Abbado unterwarf ein Orchesterkollektiv nicht, wie es übliche Praxis war, dem Gestaltungsdiktat und Kommando des Dirigenten", schreibt Wolfgang Schreiber über Abbados Führrungsstil. "Vielmehr führte er die Orchestermusiker zum eigenverantwortlichen Miteinander des Musizierens, damit zu einem emphatischen Aufeinander-Hören als dem Merkmal jeder Kammermusik."
Schreiber zeichnet Claudio Abbado als einen durch und durch europäischen Künstler: Als gebürtiger Mailänder wurde er von Toscanini und den Aufführungen in der Scala ebenso beeinflusst wie von Furtwängler, den er als Jugendlicher erlebte. Er studierte in Wien bei Hans Swarowsky, einem Schüler Schönbergs und war eng mit dem Komponisten Luigi Nono befreundet, dessen Werke er als Musikdirektor der Mailänder Scala herausbrachte – neben Raritäten aus früheren Jahrhunderten wie Rossinis "Il Viaggio a Reims".
Und Claudio Abbado war ein Operndirigent, der das Theater ebenso ernst nahm wie die Musik. Der mit legendären Regisseuren wie Giorgio Strehler, Patrice Chereau oder Andrej Tarkowsky zusammenarbeitete, weil er sich mit deren Sichtweisen intensiv auseinandersetzen wollte – nicht weil ein Intendant sie ihm vor die Nase gesetzt hätte.
Seine Idee war es, sich als Dirigent selbst überflüssig zu machen.
Schreibers Abbado-Biographie ist strikt chronologisch angelegt, mitunter gerät der Autor vom Erzählerischen zum rein Aufzählenden. Das liest sich manchmal leider etwas trocken.
Einen "stillen Revolutionär" nennt Schreiber Abbado sehr treffend. Auch und gerade diejenigen, die den Dirigenten vielleicht nicht mehr selbst erleben konnten, erfahren in dieser Rückschau auf sein Leben auf sachlich-unaufgeregte Art, was Abbado zu einem so herausragenden Künstler machte und wie wichtig gerade heute solche Persönlichkeiten für unser Kulturleben und unsere Gesellschaft wären.
Wolfgang Schreiber:
"Claudio Abbado – Der stille Revolutionär"
316 Seiten, gebunden
C. H. Beck Verlag
Preis: 24,95 Euro
Ab 16. Mai 2019 im Handel
Sendung: "Allegro" am 14. Mai 2019 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK