Historische Aufführungspraxis – das bedeutete ursprünglich, Musik von Bach oder Monteverdi auf alten Instrumenten zu spielen. Doch inzwischen hat sich die Originalklangszene neues Terrain jenseits der Alten Musik erobert: Immer öfter werden auch Beethoven, Schubert oder sogar Ravel auf historischen In-strumenten musiziert. Und nun auch Smetana. Das Prager Collegium 1704 unter der Leitung des Cembalisten und Hornisten Václav Luks hat eine Neu-einspielung des Zyklus "Má vlast", Mein Vaterland", vorgelegt.
Bildquelle: Accent
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Manchmal erwächst gerade aus der Krise etwas Außergewöhnliches. Es ist mitten in der Corona-Zeit, als der Dirigent Václav Luks einen utopisch klingenden Auftrag bekommt: Er soll mit seinem Collegium 1704 das Festival "Prager Frühling" eröffnen. Und zwar, wie es dort seit 1946 Brauch ist, mit Smetanas Zyklus "Mein Vaterland". Bloß, dass das Collegium 1704 eigentlich ein Barockensemble ist, spezialisiert auf historische Instrumente, zuhause in der Welt von Bach und Zelenka. Ein Barockorchester, das Smetana spielt? Klingt unmöglich.
Dieses Album muss man haben, weil …
... damit ein zentrales Werk der Romantik in historischer Aufführungspraxis vorliegt, und noch dazu gespielt von einem Prager Ensemble – da ist das Schlagwort vom "böhmischen Klang" mehr als ein Mythos!
Dieses Album ist ein Hörgenuss …
... dank dem wunderbaren Sound der historischen Blasinstrumente – und der überbordenden Energie dieses Live-Mitschnitts.
Dieses Album führt bei Überdosis zu …
... nostalgischem Mitsummen und Mitsingen und allerlei sonstigem romantischen Überschwang.
Doch Václav Luks tut einfach das, was man halt so tut, wenn man historische Aufführungspraxis betreibt. Er erkundet, welche Instrumente um 1880 gespielt wurden, welche Bauart Smetana bevorzugte, und lädt in sein Orchester Spezialisten ein für diesen wunderbar warm-weichen Holzbläserklang und für markant-knackiges Blech. Er studiert Geigenlehrbücher aus Smetanas Zeit, hört frühe Schallplattenaufnahmen und lässt seine Streicher genauso spielen: auf Darmsaiten, vibratoarm, mit kleinen Schleifern zwischen zwei weit entfernten Tönen. Und er nimmt die Spielanweisungen in Smetanas Partitur ernst. Die sind ungewöhnlich detailliert. Vielleicht auch, weil Smetana während der Komposition langsam sein Gehör verlor. Eine persönliche Tragödie. Und doch erwuchs auch hier aus der Krise ein Werk von ungeahnter Intensität. Denn Smetana musste seinen Kapellmeister-Job aufgeben – und stürzte sich nun ganz in die Arbeit am Zyklus "Má vlast". Unglaublich, aber wahr: Die berühmte "Moldau" ist das Werk eines vollständig ertaubten Komponisten.
Am 12. Mai 2021, dem Jahrestag von Smetanas Tod, ist es soweit. Im Prager Gemeindehaus bleiben coronabedingt viele Plätze leer. Aber immerhin: endlich wieder ein Konzert. Und noch dazu mit einem emotional so aufgeladenen Werk. Es hat etwas von einer Wiederauferstehung. Das Collegium 1704 sorgt für 78 Minuten Hochspannung. Gerade die dramatischen Sätze, die sich um die Hussitenkriege drehen oder um das märchenhafte männermordende Mädchen Sarka, gelingen besonders packend.
Václav Luks und sein Collegium 1704 machen nicht alles anders als die großen Sinfonieorchesterschlachtrösser. Aber manches besser. Sie spielen "Má vlast" so, wie Smetana den Zyklus gern gehört hätte. Schlank und schlackenlos. Farbenreich funkelnd. Die Orientierung an historischen Spieltechniken verleiht der Interpretation einen Hauch von Patina – und paradoxerweise zugleich eine ungeheure Frische. Das Konzert wird zur Sternstunde, der Mitschnitt des Prager Frühlings zum Meilenstein der Diskographie. Und aus der Krise ist wieder einmal etwas Außergewöhnliches entstanden.
Bedřich Smetana
Má vlast
Collegium 1704
Leitung: Václav Luks
Label: Accent
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