Der russische Pianist Grigory Sokolov ist eine lebende Legende. Keine Interviews, absolute Konzentration auf die Kunst. Sein Konzertprogramm von 2022 ist nun auf CD erschienen. Eine ungewöhnliche Kombination und ein großes Klavierglück.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Album der Woche
Grigory Sokolov spielt Purcell und Mozart
Es war bei den Salzburger Festspielen im August 2018. Der legendäre Pianist Grigory Sokolov (für viele, mich eingeschlossen, gehört er zu den allergrößten) gibt eines seiner jährlichen Konzerte im Salzburger Festspielhaus. Währenddessen geht über Salzburg ein Sommergewitter nieder. Sokolov spielt überirdisch schön eine überirdisch schöne Haydn-Sonate. Da hört man plötzlich ein leises Plätschern, das immer mehr anschwillt. Vorne, ausgerechnet auf den teuersten Plätzen, in der fünften und sechsten Reihe, springen die Leute auf. Und dann sieht man es auch. Kaum zu glauben: Es regnet aus der Decke! Ein Wassereinbruch. Es pladdert, es gibt Gemurmel und Gedrängel – und Sokolov? Spielt einfach weiter, völlig versunken in die Musik. Selbst beim Verbeugen und Rausgehen (dabei wirkt er immer ein wenig abwesend, fast wie ein Aufziehmännchen) merkt er nichts von der höchst ungewöhnlichen kalten Dusche und dem ganzen Aufruhr. Hinter der Bühne entschuldigt sich bei ihm das Management. Sokolov fragt freundlich: Aber wofür?
Ein Sokolov-Konzert hat etwas von einem Ritual, das festen Regeln folgt. Erste Regel: Er spielt schon seit Jahrzehnten nicht mehr mit Orchester. Lenkt zu viel ab. Zweite Regel: Er spielt jedes Jahr nur ein einziges Programm an verschiedenen Orten, aber nur in Europa. Alles andere lenkt zu viel ab. Dritte Regel: Nach dem offiziellen Programm gibt es immer exakt sechs Zugaben, nicht mehr und nicht weniger. Ablenken lässt sich Sokolov von gar nichts. Nicht mal von einem Wasserschaden.
Sokolovs Ruhm kam spät. Obwohl er schon mit 16 den damals wichtigsten Preis für Pianisten gewann, den ersten Preis im Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb. 1966 war das. Aber zuerst verhinderte der Eiserne Vorhang eine breitere Wirkung, dann Sokolovs kauzige Verschlossenheit. Erst im Alter wurde aus dem Geheimtipp die lebende Legende. Und jetzt, mit 74 Jahren, wird er von den Klavierfans geliebt und verehrt wie sonst vielleicht nur noch die große Martha Argerich.
Gerade erschienen ist nun der Mitschnitt seines Konzertprogramms von 2022. Ein ungewöhnliches Programm war das: Sokolov kombinierte Musik des englischen Frühbarocks von Henry Purcell mit einer Mozart-Sonate. Und, natürlich, mit sechs Zugaben. Es sind fast drei Stunden, die einen beim Hören in eine Art sanfte, hintergründige, aber umso nachhaltigere Euphorie versetzen. Sokolov spielt unglaublich klar und unglaublich nuanciert. Ohne sich je zu verzetteln. Seine Triller sirren, seine Melodien swingen und singen, sein Anschlag bezaubert mit feinsten Abstufungen, aber dieser ganze unfassbare Aufwand von Können und Gestaltungswillen wird nie artifiziell, sondern bleibt in jedem Takt lebendig, spontan, witzig und zutiefst emotional. Klavierglück.
Grigory Sokolov spielt Purcell und Mozart
2-CD Set
Label: Deutschte Grammophon
Sendung: "Piazza" am 7. September 2024 ab 8.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (2)
Mittwoch, 11.September, 11:06 Uhr
Piano-Fan
Der Meister mit Orchester
ZITAT: Sokolov "spielt schon seit Jahrzehnten nicht mehr mit Orchester" - um so kostbarer die Aufnahmen aus der Zeit davor!
Der BR dürfte in seinen Archiven allerhand "eingelagert" haben, nicht zuletzt die Aufnahme vom 16.07.1999 mit Tschaikowskys 1. Klv.Konzert (BRSO/Fedoseyev) incl. jener überirdisch schönen Zugabe von Chopins Nocturne No.20 op.posth. cis-moll ...
Vielleicht schlummert dort auch noch die Aufzeichnung jener live Übertragung seines allerersten Münchner Konzerts aus dem Jahr 1977 mit Saint-Saëns 2. Klv.Konzert (M'Philh/Groves) ???
Die im Anschluss daran entstandene Platten-Produktion mit Chopins 1. Klv.Konzert (M'Phil/Rowicki/ 27.11.1977 Bürgerbräu Mchn.) wurde mehrfach bei unterschiedlichen Labels veröffentlicht und ist auch jetzt noch als CD käuflich zu erwerben - mein Prädikat "von wahrhaft überirdischer Schönheit, etwas für die Ewigkeit"!
Wie wär's, liebe Programmgestalter von BR-KLASSIK, mit einer diesbezüglichen Retrospektive ?!
Montag, 09.September, 07:09 Uhr
Beate Schwärzler
GRIGORY SOKOLOV
PURCELL & MOZART
Bernhard Neuhoff (7-,8-,9-September):
"...sanfte, hintergründige, aber umso nachhaltigere Euphorie---"
Ähnliches habe ich gestern erlebt mit ARVO PÄRT & HOWARD ARMAN:
(BR-Fernsehen)
Die Kultur ist d o c h zu retten !!