Seine erste Symphonie schrieb Schubert als 16-Jähriger, seine zweite mit siebzehn Jahren. Als Wunderkind gilt er trotzdem nicht, viel häufiger jedenfalls werden seine späten Symphonien gespielt, am beliebtesten ist natürlich die "Unvollendete". Dem holländischen Dirigenten Jan Willem de Vriend liegen sie alle am Herzen – er hat gerade mit dem Residenzorchester Den Haag eine Gesamteinspielung veröffentlicht.
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Fast ein Geheimtipp! Oder kennen Sie den Namen Jan Willem de Vriend? Dann Glückwunsch. Selbst viele Klassiknerds dürften da nämlich passen. Andererseits: Der holländische Dirigent ist alles andere als ein Nobody. Schließlich ist de Vriend 62 Jahre alt, hat ein phantastisches Alte-Musik-Ensemble gegründet, das Combattimento Consort, ist Chefdirigent des kleinen, feinen Wiener Kammerorchesters und erster Gastdirigent in Stuttgart. Aber Sie merken schon: de Vriend hat zwar eine beachtliche Karriere gemacht in der Klassikwelt, aber zu den ganz großen Namen zählt er eben nicht. Vielleicht hilft diese Gesamteinspielung der Symphonien Franz Schuberts, dass sich das ändert.
In diese "fast ein Geheimtipp"-Liga passt auch das Orchester, mit dem sich de Vriend zusammengetan hat: das Residentie Orkest Den Haag. Mit dem weltberühmten Concertgebouw in Amsterdam können sich die Haager nicht messen, auch die Kollegen in Rotterdam sind berühmter. Trotzdem hat das Residentie Orkest Den Haag eine ruhmreiche Geschichte und gilt als eines der führenden Orchester der Niederlande. Aber nur wegen des Namens kauft das sicher kaum jemand. Wenn man aber reinhört, bleibt man gleich hängen. Ganz offenbar eine lohnende Entdeckung, wo man sie nicht unbedingt erwartet. Das gilt vor allem für de Vriends Interpretation von Schuberts frühen Symphonien.
Die klingen in vielem noch nach den klassischen Vorbildern Mozart und Haydn. Aber auch die Frühwerke sind absolut eigenständige Geniestreiche. Ein unverwechselbarer Ton färbt Schuberts Musik von Anfang an. Da ist die Nähe zur Wiener Klassik, aber auch zur österreichischen Volksmusik. Und ein Gespür des geborenen Lieder-Komponisten für Melodien, die auf kürzestem Weg vom Ohr ins Herz gehen. Schuberts Musik scheint Dialekt zu sprechen. Aber sie sagt darin etwas ganz Individuelles, bis dahin Unvorstellbares. Immer wieder, auch schon im Frühwerk, gibt es diese Brüche, als würde sich plötzlich in der schönsten Idylle eine Falltür öffnen.
Viele Interpreten verharmlosen das, lassen die häufigen Wiederholungen in den früheren Symphonien angenehm plätschern. Und ertränken die reifen, romantischen Werke im satten, selbstgefälligen Wohlklang. Ganz anders de Vriend. Sein Schubert ist nicht gemütlich, sondern voller Energie. Vorwärtsdrängend, ja manchmal geradezu manisch. Die Bläser des Residentie Orkest spielen auf historischen Instrumenten. Das macht den Klang konturiert, manchmal auch ziemlich scharf. Die Streicher nehmen wenig Vibrato. Doch all das klingt keine Spur trocken, schon eindringlich: Schubert mit hohem Puls. Oder, etwa im grummelnden Beginn der Unvollendeten, unheimlich, nächtlich. Jan Willem de Vriend geht aufs Ganze. Das ist ganz sicher nicht die schönste aller Gesamteinspielungen – die würde man von einem Geheimtipp ja auch nicht unbedingt erwarten. Aber eine der aufregendsten.
Franz Schubert:
Sämtliche Symphonien
Residentie Orkest Den Haag
Leitung: Jan Willem de Vriend
Label: Challenge
Sendung: "Piazza" am 10. August 2024 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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