Es geht um zwei konzertante Werke des vergessenen ukrainischen Komponisten Thomas de Hartmann. Und es geht um Musikerinnen und Musiker in Zeiten des Krieges: Das Symphonieorchester Lwiw, das seit 2020 über hundert Wohltätigkeitskonzerte zugunsten der ukrainischen Streitkräfte gegeben hat, ist eigens nach Warschau gereist, um dort mit Stargeiger Joshua Bell das packende Violinkonzert de Hartmanns erstmals einzuspielen. Ein Konzert, in dem der Komponist 1943 die Zerstörung seiner Heimat im Zweiten Weltkrieg beklagte.
Bildquelle: Pentatone
Den CD-Tipp anhören
Der Einsatz der Sologeige klingt wie ein Aufschrei – das Violinkonzert schrieb Thomas de Hartmann 1943 in Gedanken an seine kriegszerstörte ukrainische Heimat. Die war im Geburtsjahr des Komponisten Teil des russischen Kaiserreichs. Nach dem Studium in St. Petersburg lebte de Hartmann ab 1908 vier Jahre in München und wirkte aktiv im avantgardistischen Künstlerkreis des "Blauen Reiters" mit, namentlich bei Kandinskys Klangexperimenten. Später gehörte er zur musikalischen Entourage des griechisch armenischen Esoterikers Georgi Gurdjieff in Paris, während er seine Brötchen mit Filmpartituren verdiente. Auch im Violinkonzert setzte er gerne mal auf Breitwandsound.
De Hartmanns Musik wurzelt in der russischen Spätromantik, reicherte sich aber im Laufe seines Lebens mit den unterschiedlichsten Facetten der internationalen Moderne an. Farbenreich instrumentiert und umwerfend harmonisiert, wirkt sie mal vergeistigt, mal expressionistisch, mal bodenständig folkloristisch. Das Cellokonzert von 1935 ist nun mit Matt Haimovitz und dem MDR Sinfonieorchester unter Dennis Russell Davies erstmals auf CD zu hören. Es reflektiert die europäische Judenverfolgung der Zeit durch Klezmer-Anklänge und synagogale Stimmungen.
Das melodisch berückend schöne Cellokonzert wird jedoch in seiner Wirkung vom späteren Violinkonzert noch weit übertroffen – mit beschwörender Dringlichkeit und fantastischer Virtuosität eingespielt von Joshua Bell und dem INSO Orchester Lwiw unter Dirigentin Dalia Stasevska. De Hartmann schrieb das Konzert im von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich und widmete es einem befreundeten jüdischen Geiger, der den Krieg nicht überleben sollte. Der dritte Satz, ein gespenstisches "Menuet fantasque", evoziert das Bild eines Fiedlers, der verloren durch die Ruinen seiner Heimat wandert.
De Hartmann wurde zu Lebzeiten von prominenten Künstlern wie Casals, Tortelier, Rampal und Stokowski bewundert und aufgeführt. Dass sein Schaffen bereits kurz nach seinem Tod 1956 in New York so völlig in der Versenkung verschwand, ist nur mit seiner eigenen Bescheidenheit zu erklären. Zum Glück sind seine Manuskripte in der Musikbibliothek der Yale University erhalten geblieben und werden seit einigen Jahren mit Unterstützung des "Thomas de Hartmann Project" ediert und aufgeführt. Wenn es dann noch zu einer so großartigen Einspielung kommt wie hier, dann steht der verdienten Renaissance dieses großen Komponisten des 20. Jahrhunderts nichts mehr im Weg!
Thomas de Hartmann:
Violinkonzert op. 66
Joshua Bell (Violine)
INSO-Lviv Symphony Orchestra
Leitung: Dalia Stasevska
Cellokonzert op. 57
Matt Haimovitz (Violoncello)
MDR Sinfonieorchester Leipzig
Leitung: Dennis Russell Davies
Label: Pentatone
Sendung: "Piazza" am 14. September 2024 ab 8.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)