Der Intendant der Salzburger Festspiele, Markus Hinterhäuser, hält an Auftritten von Dirigent Teodor Currentzis fest. Ihm wird außerdem vorgeworfen, wenig experimentierfreudig zu sein. Im BR-KLASSIK-Interview erläutert er seine Positionen.
Bildquelle: © Salzburger Festspiele / Neumayr / Leo
Bernhard Neuhoff: Ich habe gerade einen Titel des österreichischen Nachrichtenmagazins "News" gesehen, da werden Sie abgebildet, vorne auf der Titelseite, und da steht groß: "Der König von Salzburg". Und Sie werden gefeiert als Visionär. Und dann habe ich einen anderen Artikel gelesen von einem von mir sehr geschätzten Kollegen, Markus Thiel vom Münchner Merkur, der schreibt, die Salzburger Festspiele seien in Behaglichkeit erstarrt. Da gelte eigentlich das Motto "keine Experimente". Macht es Ihnen gerade Spaß, Intendant zu sein?
Markus Hinterhäuser: Was den "König von Salzburg" angeht, wissen Sie, es gibt in Österreich ein Grundbedürfnis, das durchaus monarchistisch geprägt ist. Und irgendwann erreicht man diesen Status, der einem nicht unbedingt angenehm sein muss. Das ist nicht so wichtig. Den Artikel von Markus Thiel habe ich auch gelesen. Es ist jedem unbenommen, da eine Art von Müdigkeit oder Lustlosigkeit an Experimenten zu konstatieren. Die Tatsache, dass wir Opern wie "Figaros Hochzeit", "Macbeth" oder "Falstaff" programmiert haben – ich wüsste nicht, was es daran zu kritisieren gibt.
Entscheidend ist doch, wie man diese Stoffe liest. Beispielsweise Christoph Marthaler im "Falstaff". Das hat man, soviel kann ich sagen, so noch nie gesehen. Das ist das Gegenteil von Lustlosigkeit am Experiment. Und die psychologische Durchdringung, die Warlikowski beim "Macbeth" vornimmt, welche Millionen an Nuancen in diesem Drama sichtbar und erlebbar und hörbar werden – das ist auch weit entfernt von irgendeiner Müdigkeit. Es ist wirklich relativ einfach, von außen eine Skizze vorzunehmen, wie die Salzburger Festspiele zu sein haben. Ich kenne das sehr, sehr gut. Ich bin viele Jahre dabei, und ich bin weder müde, noch habe ich irgendeine Form von Lethargie Experimenten gegenüber. Allerdings – ich kann es nicht oft genug betonen – wir sind zu 75 Prozent vom Kartenverkauf abhängig. Die Dimensionen der Säle sind ziemlich groß. Wir sind weit davon entfernt, ein hochsubventioniertes Festspiel zu sein. Entgegen der Klischees.
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Bernhard Neuhoff: Wenn man diese beiden Rollenmodelle nimmt für den Intendanten der Salzburger Festspiele, der einerseits als "König" bezeichnet wird, von dem andererseits gefordert wird, dass er ganz subversiv sein soll. Zu welchen dieser beiden Charaktere fühlen Sie sich mehr hingezogen?
Markus Hinterhäuser: Wissen Sie, ich habe ein nicht zu lösendes Problem zwischen der Fremdwahrnehmung meiner Person und meiner eigenen Wahrnehmung. Ich habe überhaupt kein Gefühl für diese Metapher von der Macht eines Königs. Das hat mit diesem monarchistischen Grundbedürfnis in Österreich zu tun.
Bernhard Neuhoff: Trotzdem verstehen Sie die österreichische Seele – als halb Italiener, halb Deutscher – erstaunlich gut, oder?
Markus Hinterhäuser: Ich verstehe sie nicht nur erstaunlich gut. Ich glaube, ich durchschaue sie. Die österreichische Seele zu durchschauen, das ist lebensfüllend, nicht nur abendfüllend. Das ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Aber ich kenne sie, und ich weiß, sie zu decodieren. Und dabei wollen wir es auch belassen.
Bernhard Neuhoff: Es wird gerade viel diskutiert über ein Konkurrenzfestival. Die Bayreuther Festspiele sind nicht ausverkauft. Der ehemalige Staatsoperndirektor in Wien Ioan Holender hat einen Artikel geschrieben und hat behauptet, das läge am bösen Regietheater. Kein Wunder, dass bald die Kunstform Oper vor ihrem Ende stünde. Großes Rauschen in den Feuilletons. Die Salzburger Festspiele sind selten ganz ausverkauft kurz vor Beginn. Was raten Sie Frau Wagner? Macht sie alles richtig?
Markus Hinterhäuser: Es steht mir nicht zu, hier einen Rat zu geben. Ich kann und will nur über Salzburg sprechen. Wir haben dieses Problem nicht. Wir sind wirklich phänomenal verkauft. Ich kann Ihnen sagen, dass wir im letzten Jahr bei einer platzmäßigen Auslastung von 96 Prozent waren, viel mehr geht nicht. Und was wir jetzt, in diesen Monaten seit Erscheinen unseres Programms durchaus konstatieren können, ist, dass der Verkauf noch besser ist. Also ich mache mir überhaupt keine Sorgen, was das betrifft.
Die Kritik des Ioan Holenders und die Reaktion von Bayreuth-Chefin Katharina Wagner lesen Sie hier.
Ich glaube, einer der wesentlichen Gründe war die Tatsache, dass wir 2020 Festspiele stattfinden lassen haben und zwar als einzige in der ganzen Welt. Damals waren sehr viele Länder ausgeschlossen davon, irgendwohin zu reisen und beispielsweise die Salzburger Festspiele zu besuchen. Wir haben es gemacht. Wir haben neues Publikum gewonnen, ein ganz anderes Publikum. Wir haben es irgendwie geschafft, da eine Art von Gemeinschaft herzustellen. Und wenn ich das Wort verwenden darf: Wir profitieren sehr davon. Die Frage nach dem Regietheater stelle ich mir überhaupt nicht, weil es kein Theater ohne Regie gibt. Jedes Theater ist Regietheater.
Bernhard Neuhoff: Das sagt Herr Holender ja auch: Regietheater sei ein weißer Schimmel. Nur die Regisseure hätten es zu bunt getrieben.
Markus Hinterhäuser: Das sei jedem unbenommen, diese Ansicht zu haben. Ich glaube auch, dass man da Ioan Holender, den ich ziemlich gut kenne, etwas überinterpretiert. Aber nochmal: Theater ist ohne Regie nicht denkbar. Ich weiß auch, worauf man in dieser Diskussion hinauswill: Dass die forcierte Interpretation von Stücken, um einem Stück irgendwie nahe zu kommen, verstörend sein kann, das bestreite ich überhaupt nicht. Aber man darf dennoch niemals aufhören, diese Werke, die ja zum Teil hunderte Jahre jung sind, immer wieder zu untersuchen, immer wieder unter ein imaginäres Mikroskop zu legen und auf unsere Zeit hin zu befragen, ohne zeitgeistig zu sein, ohne modisch zu sein.
Bernhard Neuhoff: Aber man könnte ja auch mal umgekehrt sagen: In Ländern, die regiemäßig sehr konservativ sind, hat die Kunstform Oper durchaus viel größere Probleme als im deutschsprachigen Bereich.
Markus Hinterhäuser: Italien zum Beispiel! Das ist wieder ein ganz anderes Phänomen. In Italien herrscht eine ganz andere Form der Wahrnehmung, was Oper ist. Es gibt da eine Art von Blockade.
Bernhard Neuhoff: Aber das spricht doch einfach gegen die Behauptung von Ioan Hollaender, dass das Regietheater das Publikum vertreibt. Denn da wo kein Regietheater, da noch weniger Publikum.
Markus Hinterhäuser: Ich kenne jetzt die italienische Situation nicht so gut, dass ich da ein finales Urteil abgeben könnte. Aber wenn es so ist, dann würde es der Theorie durchaus widersprechen. Wir haben dieses Problem nicht. "Macbeth" vollkommen ausverkauft, "Figaro" vollkommen ausverkauft. Sogar die "Griechische Passion" von Martinu ist fast ausverkauft, ein Stück, das sehr, sehr selten aufgeführt wird.
Bernhard Neuhoff: Sind Sie vorsichtiger geworden wegen Covid?
Markus Hinterhäuser: Nein, nicht wegen Covid. Aber es gibt durchaus Konsequenzen dieser drei Covid-Jahre. Die waren sehr, sehr schlimm. Und wir haben mit den Nachwirkungen dieser Zeit durchaus Probleme. Wir stehen aber gleichzeitig vor ganz anderen Herausforderungen. Es gibt diesen schrecklichen Krieg in der Ukraine, der viele Dinge aus dem Lot gebracht hat. Es gibt Inflation, es gibt Teuerungen überall.
Wir müssen auch damit fertig werden, dass wir auch an dem Bild Korrekturen vornehmen müssen, das wir nach außen geben. Wir, die Verantwortlichen dieser Kulturinstitutionen, müssen eine Art von Offenheit zeigen, aber gleichzeitig auch klarmachen, dass wir diese Frage der Wertigkeit, die sich für viele Menschen an der Anzahl der Besucher orientiert, auch nicht unbedingt akzeptieren müssen. Eine paradoxe Situation.
Wir haben mit den Nachwirkungen der Covid-Zeit durchaus Probleme.
Wenn man sich nur vor Augen führt, dass wir 220.000 Karten anbieten und wir eine Platzauslastung haben um die 96 Prozent, dann kann man auch durchaus davon sprechen, dass es Menschen gibt, die dieses Bedürfnis teilen. Und das kann man nicht immer relativieren, indem man dann über Strategien spricht: Wie bekomme ich anderes oder neues Publikum? Wir bemühen uns alle darum. Ich bin unzählige Male eingeladen worden, an Symposien teilzunehmen, und ich habe beschlossen, das nicht mehr zu tun. Es gab da so Titel wie "Die Krise der Klassik". Die Klassik ist nicht in der Krise. Die Klassik beschreibt Krisen. Eine Mahler-Symphonie beschreibt eine Krise. Wir sind in der Krise, und darüber müssen wir nachdenken, und nicht sozusagen das Pferd von der falschen Seite aufzäumen.
Bernhard Neuhoff: Ich verstehe, dass Sie sich sozusagen nicht diese ganzen Schuhe anziehen wollen. Und Sie müssen sich nach zwei Seiten verteidigen. Einmal, dass man mehr Experimente fordert und dann nach der Seite der Politiker, die nach der Relevanz des Ganzen fragen und von Ihnen volle Säle verlangen.
Markus Hinterhäuser: Ich habe auch vor allem keine Lust, mich zu verteidigen. Ich versuche nur die Situation, in der ich mich als Intendant der Salzburger Festspiele bewege und aufhalte, möglichst klar mitzuteilen. Und die ist wesentlich differenzierter und wesentlich vielschichtiger, als man das von außen her so wahrnimmt.
Bernhard Neuhoff: Sie haben vorhin den Krieg in der Ukraine erwähnt. Da gibt es einen Künstler – Sie haben viel über ihn reden müssen und auch da sich verteidigen müssen, ohne sich vielleicht verteidigen zu wollen – nämlich Teodor Currentzis. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, er trage die Verantwortung für seine Musikerinnen und Musiker in Russland und kann sich deswegen nicht zum Krieg positionieren. Andere verweisen darauf, dass sein Erfolg in Russland immer größer wird, dass man auch hinter den Kulissen eigentlich nichts von ihm hört, dass er mit Musikern auftritt, die aggressiv nationalistisches Zeug von sich geben, dass er sich von Rosatom sponsern lässt, von sanktionierten Banken. Und viele, die ihn lange verteidigt haben, rücken ja auch jetzt von ihm ab. Leute, die sogar mit ihm eng zusammengearbeitet haben. Sie tun das nicht?
Markus Hinterhäuser: Nein, ich tue das nicht. Currentzis wird hier auftreten. Ich habe seit dem 1. März letzten Jahres mit dieser Frage zu tun. Ich bin nicht der persönliche Anwalt von Currentzis, aber ich vertrete, und das möchte ich auch für mich in Anspruch nehmen, eine Kulturinstitution. Die Kultur ruft geradezu dazu auf, Differenzierungen zu machen. Diese Form des moralischen Hochsitzes, die ist mir wirklich nicht sympathisch. Ich verstehe, dass man die eine oder andere Frage hat zu Currentzis. Die kann man in anderen Bereichen durchaus auch mit anderen formulieren. Aber ich komme in Schwierigkeiten, wenn ich diese moralischen, pseudomoralischen Imperative höre. Das ist etwas, mit dem ich wirklich Schwierigkeiten habe und wo ich eine Art von Widerstand in mir spüre.
Bernhard Neuhoff: Kunst und Moral sollen getrennt sein, aber man kann sie auch nicht vollständig voneinander trennen. Es gibt fantastische Künstler, die moralisch schlimme Dinge gemacht haben. Dadurch wird ihre Kunst nicht schlechter. Es gibt auf der anderen Seite moralisch hochstehende Menschen, die vielleicht nicht so tolle Künstler waren. Trotzdem kann man die beiden Sachen ja nicht trennen, nicht vollständig, oder? Und Sie würden ja irgendwo auch eine Grenze setzen. Oder es ist für Sie komplett egal, was jemand macht?
Markus Hinterhäuser: Ich würde irgendwie eine Grenze setzen. Bloß, mittlerweile leben wir in einer Gesellschaft, die sich ständig in alles und jedes einmischt und ständig über alles und jedes empört ist und Sanktionierung verlangt, wenn es diesen eigenen moralischen Ansprüchen nicht genügt. Was immer das auch ist, dieser moralische Anspruch.
Bernhard Neuhoff: Aber den teilen Sie doch, oder?
Markus Hinterhäuser: Um noch einmal auf Teodor Currentzis zu kommen. Und das sage ich jetzt wirklich mit der größten Überzeugung: Ich habe von Teodor Currentzis niemals eine Äußerung gehört, die irgendwie in eine Nähe zu Wladimir Putin gekommen wäre oder zu einer positiven Bewertung dieses Krieges. Wir haben auch darüber geredet. Ich kenne ihn ja sehr gut.
Wir haben das Privileg, dass wir niemals, niemals in einem diktatorischen System gelebt haben. Und wir maßen uns ständig irgendwelche Dinge an, die gar nicht Teil unserer eigenen Lebenserfahrung sind. Wir wissen nicht, was dort passiert. Wir maßen uns an, Deklaration zu verlangen. Ich habe eine neue Schauspielchefin. Marina Davydova, die habe ich nicht absichtslos nach Salzburg geholt: eine russischstämmige, fantastische Theaterfrau. Die musste dieses Land verlassen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Sie hat eine Deklaration gegen Putin nicht nur unterschrieben, sondern verfasst und keine 24 Stunden später war dieses berühmte Z an ihrer Haustür aufgesprayt, und sie hat sofort mithilfe der litauischen Botschaft das Land verlassen und wird nie wieder zurückkommen können. Ich habe auch mit Marina Davydowa unzählige Male darüber gesprochen. Ich habe mit ihr auch über Currentzis gesprochen, ja, ich gehe nicht so blind in eine Situation hinein. Ich bin auch nicht bockig in dieser Sache. Ich versuche nur, eine Differenzierung herzustellen.
Wir haben das Privileg, dass wir niemals, niemals in einem diktatorischen System gelebt haben.
Es gibt auch eine sehr große zivilisatorische Errungenschaft, die wir oft einfach so aushebeln: im Zweifel für den Angeklagten. Und ich habe einen Satz Robert Musils gelesen, und ich kann diesem Satz alles abgewinnen. "Ohne den Menschen etwas vorschreiben zu dürfen, würde die Moral gar kein Vergnügen bereiten." Dieser Satz ist ziemlich wichtig.
Bernhard Neuhoff: Jetzt unterstellen Sie aber denen, die Kritik üben, ein Vergnügen daran, Sie zu belehren. Aber die haben ja vielleicht auch ihre Skrupel und ihre Gründe.
Markus Hinterhäuser: Das respektiere ich auch. Aber ich kenne auch einige Fälle, die sind nicht gerade ausgestattet mit diesen Skrupeln oder Gründen. Da ist es wirklich eine Art von persönlicher Genugtuung, wenn man irgendwelche Künstlerinnen oder Künstler wirklich eliminieren kann. Das hat schon fast etwas Zwanghaftes. Es ist eine so schwierige und so differenzierte Geschichte, wo ich wirklich manchmal baff bin über die Sicherheit mancher, die sich da exponieren.
Bernhard Neuhoff: Jetzt muss ich den Elefanten im Raum doch kurz benennen, auch wenn Sie sich nicht gern zu ihm äußern möchten. Sie reden unausgesprochen von dem Journalisten Axel Brüggemann, der stark in Sachen Currentzis recherchiert hat und Sie heftig angegriffen hat. Ich respektiere, dass Sie dazu keine Stellung nehmen möchten. Mich würde aber doch sehr interessieren: Haben Sie je überlegt – wenn das oder das passieren würde, dann wäre Schluss, dann würde ich einen Künstler ausladen?
Markus Hinterhäuser: Wo diese rote Linie genau liegt, kann ich Ihnen nicht beantworten. Aber dass ich mir selber diese Fragen stelle, das kann ich Ihnen versichern: Ich tue das. Ich kann es nur situativ entscheiden, und das ist auch richtig so.
Es ist etwas sehr Sonderbares, dass man von Künstlern nicht nur erwartet, sondern fast verlangt, dass Sie eine Kompassnadel haben, die zwingendermaßen in eine moralisch unanfechtbare Richtung zeigt. Das ist ziemlich fragwürdig. Und in letzter Konsequenz ist das auch ein ziemlich kleinbürgerliches Bild von dem, was Künstler sind. Wir reden über Moral, und wir leben in einer nicht unmoralischen Welt, sondern vollkommen amoralischen Welt. Und das betrifft alle, das betrifft die ganze Welt. Auch die Geschichte der Kunst ist eine Geschichte der Amoralität, nicht der Moralität.
Bernhard Neuhoff: Klingt ein bisschen nach Relativismus? Oder nach Realismus?
Markus Hinterhäuser: Es ist eher Realismus. Auch die Nachbetrachtung von Phänomenen, Verhaltensweisen oder von Ansichten, die lange zurückliegen – und wo wir jetzt versuchen zu canceln –, und das ist ein ganz, ganz problematischer Vorrang. Das ist nämlich auch das Ausradieren von dem, was man historisches Gedächtnis nennt.
Bernhard Neuhoff: Moritz Eggert, ein anderer Kritiker von Ihnen, der Präsident des deutschen Komponistenverbands, hat gesagt: Currentzis soll hier spielen, aber danach soll er in einer Diskussionsveranstaltung Stellung nehmen. Dafür hätten Sie zu sorgen, also nicht zu canceln, aber zur Rede zu stellen.
Markus Hinterhäuser: Was verlangt man von mir? Ich habe für nichts zu sorgen, außer, dass alle, die nach Salzburg kommen, das tun, was sie wirklich können: nämlich Musik machen.
Bernhard Neuhoff: Es gibt ja andere Künstler, die hier nicht mehr auftreten, die früher oder auch heute eine große Putin-Nähe hatten. Hat das was damit zu tun? Also ich denke an Anna Netrebko oder Valery Gergiev.
Markus Hinterhäuser: Es hat ganz bestimmt etwas damit zu tun. Wir haben sie letztes Jahr nicht im Programm gefunden, wir werden sie auch nächstes Jahr nicht finden. Da gibt es eine gesicherte Nähe zum System Putin, die ich bei Currentzis nicht sehe und die mir in dieser Form auch nicht aufgefallen ist.
Bernhard Neuhoff: Aber Netrebko hat sich mittlerweile distanziert …
Markus Hinterhäuser: Ich will das auch nicht mehr bewerten. Bei ihr gibt es die Nähe zu diesem System und durchaus auch eine Sympathie zu diesem System. Ob man sich davon mit Anwälten – aus welchen Gründen oder in welcher Form auch immer – distanziert hat, mag ich nicht beurteilen. Ich weiß, dass es das gibt. Und ich weiß, dass es diese Nähe auch bei Valery Gergiev gibt. Und deswegen ist das für Salzburg kein Thema.
Bernhard Neuhoff: "Die Zeiten sind schlecht, die Zeit ist aus den Fugen", diese Worte von Hamlet haben Sie als Motto der diesjährigen Festspiele ausgesucht. Kunst kann ja auch in einem positiven Sinn befreien, indem sie uns für ein paar Minuten der Wirklichkeit entrückt. Ist Kunst im guten Sinne und mit einer großen Berechtigung manchmal auch eine Flucht vor der Wirklichkeit? Soll sie das sein? Darf sie das sein? Brauchen wir das?
Markus Hinterhäuser: Das darf sie sein. Vielleicht brauchen wir das auch, da würde ich gar nicht widersprechen. Es ist ja nicht ganz uninteressant, dass die Quintessenz des "Falstaff" "alles in der Welt ist ein einziger Spaß" ist. Und dass Verdi genau diese Quintessenz in das komplizierteste musikalische Konstrukt verpackt, nämlich in die Fuge. Und die Übersetzung des Wortes "fuga" aus dem Italienischen ist denkbar einfach: Flucht. Vielleicht hat es auch so etwas wie eine Weltflucht als Möglichkeit für Verdi gegeben, als Möglichkeit, das zu formulieren. Dass wir das manchmal brauchen, dass wir das manchmal auch in Anspruch nehmen können und dürfen, steht völlig außer Frage für mich. Trotzdem geht das Erleben von Musik und von Kunst weit über irgendeine Form von Eskapismus hinaus.
Vieles macht eine große Freude, Intendant der Salzburger Festspiele zu sein.
Bernhard Neuhoff: Die Salzburger Festspiele sind eine lustige Mischung aus super populär und super abgedreht. Da gibt es auf der einen Seite das Ritual, dass man die Taxifahrer dazu interviewt. Da gibt es die Interessen der Hoteliers. Da gibt es die Politik auch. Da gibt es eine FPÖ-ÖVP-Koalition. Da gibt es die Kunst, für die Ihr Herz schlägt. Das ist wie Kräfteparallelogramm, da ziehen verschiedene Kräfte in verschiedene Richtungen. Macht es Ihnen Spaß, das auszubalancieren?
Markus Hinterhäuser: Ach, ich weiß nicht, ob man das so in der Kategorie Spaß subsumieren kann. Sollte man vielleicht doch gar nicht. Es ist, wie es ist. Vieles macht eine große Freude, Intendant der Salzburger Festspiele zu sein. Und vieles, wo ich wirklich sage, dieser Beruf, diese Tätigkeit gehört zu den allerallergrößten Privilegien meines Lebens. Dann gibt es so antagonistischer Kräfte darin. Sie haben vieles angesprochen. Dieser gefährliche Dreh nach rechts, nach ultrarechts, das ist ja kein österreichisches Phänomen, das hat man in Deutschland mit der AFD genauso. Auch in Italien gibt es das, in Schweden, in Frankreich, in Ungarn. Das ist ein europaweites Phänomen geworden, und man muss auf dieses Phänomen politische Antworten finden. Und zwar in einem ganz harten Diskurs.
In der Oper "Die griechische Passion" geht um Fragen des Asyls, dieser wirklichen Tragödie unserer Zeit, dieser Bewegung von Menschen von einem Ort zu einem anderen und die Frage, ob sie dort willkommen sind. Und auch wenn man ihnen dort mit einer Art von Empathie oder Zuneigung begegnet – ist da im Grunde eine ganz, ganz tiefe Ablehnung. Das ist auch eine der zentralen außenpolitischen Fragen. Aber Außenpolitik gibt es nicht mehr. Außenpolitik wird immer zur Innenpolitik, und das ist ein großes Problem, das wir haben. Außenpolitik ist zur Innenpolitik geworden, und die Innenpolitik charakterisiert sich doch durch eine ziemliche Trostlosigkeit.
Bernhard Neuhoff: Sind Sie pessimistisch, was die Zukunft der Demokratien in Europa angeht?
Markus Hinterhäuser: Wissen Sie, ich bin nicht pessimistisch. Ich bin skeptisch. Es gibt einen sehr schönen Satz des Schriftstellers und Philosophen Émile Michel Cioran: "Skepsis ist die Eleganz der Angst." Vielleicht habe ich Angst davor und drücke es nur etwas eleganter aus …
Bernhard Neuhoff: Was kann man dagegen tun von kultureller Seite? So eine Oper wie "Die griechische Passion" aufs Programm setzen?
Markus Hinterhäuser: Ich habe vorhin von der nicht existierenden Massenkompatibilität gesprochen. "Die griechische Passion" mache ich hier aus tiefster Überzeugung wie viele andere Dinge auch. Aber es ist nicht etwas, was irgendeine Art von größerer Verbreitung erfährt. Da bleiben wir auch irgendwie unter uns. Und trotzdem ist es wichtig, das zu machen. Wenn wir mit der Musik und der Kunst irgendwie etwas bewirken können, ist es eine Verfeinerung des Denkens, eine Art von Fähigkeit, Zwischentöne wahrzunehmen und in einer Art von differenzierterer Welt zu leben. Es gibt eben nicht nur schwarz und weiß. Es gibt unendlich viel dazwischen. Cézanne hat mal zu einem Schüler gesagt: "Wenn du nur schwarz und weiß malen kannst, wirst du nie ein guter Maler werden." Es gibt Millionen Dinge. Und ich kann gar nicht anders, als mich ständig zu versichern, dass das möglich ist. Und das versuche ich.
Sendung: "Meine Musik" am 22. Juli 2023 ab 11:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (4)
Donnerstag, 03.August, 02:27 Uhr
Michael Küster
Neuhoff
Diese Sendung war eine Zumutung. Mit dem Charme eines auf political correctness getrimmten Pennälers versuchte Neuhoff, Markus Hinterhäuser vorzuführen und in die Enge zu treiben. Unerträglich! Nach Hinterhäusers rhetorisch gestochenen und entwaffnenden Antworten war es dann aber ganz schnell vorbei, weil von Neuhoff ausser heisser Luft nicht mehr viel kam. Wahrhaft keine journalistische Sternstunde.
Samstag, 29.Juli, 01:09 Uhr
Kern
Intendant
Gefällt mir gut....5 Sterne ??
Dienstag, 25.Juli, 20:42 Uhr
Nick
Simonsen
Ein Musterbeispiel für ein gelungenes, dabei auch anspruchsvolles Gespräch, in dem Raum für differenzierte Fragen und abgewogen Antworten gegeben wurde. Vielen Dank!
Dienstag, 25.Juli, 09:59 Uhr
Beate Schwärzler
"Wenn wir mit der Musik und der Kunst..."
Danke für diese Auseinandersetzung,
sehr geehrte Herren Markus Hinterhäuser und Bernhard Neuhoff.
Hat vieles auseinander- und wieder zurechtgerückt und Sie waren sich selten einig.
Der letzte Absatz dann freilich..
"Wenn wir mit der Musik und der Kunst irgendetwas bewirken können..."
Ja.
Ja.