Komponisten mögen es nicht, wenn man sich ihre Werke nur über bildhafte Assoziationen erschließt - Stichwort "Regentropfenprélude". Eva Gesine Baur schreibt in der April-Ausgabe ihrer Kolumne für BR-KLASSIK darüber, warum sie nicht so empfindlich sein sollten, und warum Musikliebhaber am Geldautomaten auch in Zukunft kein Handy brauchen.
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Wir haben damit gerechnet. Es musste kommen: Selfie statt Pin. Ein Kreditkartenbesitzer braucht keine Zahlenfolge mehr einzutippen, um zu beweisen, dass er wirklich er ist, es reicht, sich zu knipsen und die Gesichtserkennungssoftware sagt: Jawohl! Sich etwas zu merken ist schließlich mühsam, außerdem überflüssig. Früher konnten sich nur reiche Römer einen Nomenklator leisten, einen Einflüster-Sklaven, heute genügt ein Smartphone. Dennoch jammern Zwanzigjährige über ihre präsenile Demenz, denn sie wollen, wenn sie mal als Hundertjährige aus dem Fenster steigen, nicht die Orientierung verlieren. Musik gilt als idealer Sportplatz fürs Gedächtnistraining. Fast jeder beneidet Gedächtniskünstler, die beim Musikrätsel von BR-KLASSIK sofort die Melodie erkennen und wüsste gern, wie sie es machen.
Musikliebhaber Thomas Mann | Bildquelle: Sammlung Megele/Süddeutsche Zeitung Photo
Vielleicht machen Sie es wie Thomas Mann. In seinem Komponistenroman Doktor Faustus stellt der Klavierlehrer Wendell Kretzschmar seinen Schülern den Variationen-Satz Adagio semplice e cantabile aus Beethovens opus 111 vor. Das Arietta-Thema, erklärt er, sei auf ein Motiv reduzierbar, das am Schluss der ersten Hälfte, einem kurzen, seelenvollen Rufe gleich, hervortritt – drei Töne nur, eine Achtel, eine Sechzehntel- und eine punktierte Viertelnote, nicht anders skandiert als etwa: Him-melsblau oder: Lie-beslied oder: Leb-mir wohl oder: Der-maleinst oder: Wie-sengrund,- und das ist alles.
Prompt schlug ihm Arnold Schönberg, der nur ein paar Straßen weiter wohnte in Pacific Palisades, diese Stelle um die Ohren: Das Ganze sei rhythmisch völlig daneben. Recht hatte er. Das Arietta-Thema beginnt mit einem Auftakt, das heißt: unbetont. Doch alle Wörter, die der Dichter assoziiert, werden auf der ersten Silbe betont. Er konnte schlicht einen Auftakt nicht von einem Volltakt unterscheiden. Das aber ändert für mich nichts an der suggestiven Wirkung dieser Passage. Wer sie einmal gelesen hat, vergisst nie mehr die himmelblaue Stelle aus opus 111. Warum eigentlich nicht, wenn es hörbar falsch ist?
Vielleicht hilft das Wunschkonzert weiter. Jeder, der sich da etwas wünscht, erzählt von irgendeinem Erlebnis, das er mit dem bestellten Stück verbindet. Gemerkt hat sich der Anrufer sein Wunschstück, weil er dabei einst Herzklopfen, Rührung, Heimweh oder sonst ein Weh verspürte. In der Sprache der Hirnforscher: Vom Langzeitgedächtnis sofort abrufbar sind die Informationen, die wir mit starken Emotionen aufnehmen. Das heißt, Musik wird mit Nicht-Musikalischem verknüpft, Bildern, vielleicht auch Gerüchen, Geschichten, ob schlimm oder schön. Leider mögen das Komponisten gar nicht. Britten erklärte, wer beim Musikhören dauernd Bilder vor sich sehe, der freue sich nicht an der Musik, nur an seinen eigenen Assoziationen. Chopin wurde fuchsteufelswild, als George Sand nachts ins Kloster Valdemossa, das unwirtliche Ziel der wilden Eheleute, zurückkam und aus dem Prélude, das er in der Zwischenzeit komponiert hatte, den aufs Dach der Kartause klopfenden Regen heraushörte.
Szene aus "Vineta", einer Produktion des Chors des Bayerischen Rundfunks | Bildquelle: BR Was derzeit in den Konzertsälen ringsum grassiert, triebe also jeden Komponisten zum Wahnsinn. Klassik in Bildern, kündigt der Münchner Gasteig eine neue Art von Veranstaltungen an, vereint Meisterwerke der klassischen Musik mit aufwändigen Naturbildprojektionen auf großer Leinwand. Ein Fotokünstler bringt Rimski-Korsakows Scheherazade in 1001 Bildern. Von Weimar bis Wien, von Bern bis Berlin werden Gesamtkunstwerke aus Licht, Foto und Musik angekündigt. Für Puristen und Komponisten ist die Bilderflut eine Sintflut. Aber die gehen auch seltener in Konzerte als Menschen, die ungefähr so musikalisch sind wie Thomas Mann. Und dafür, dass es mnemotechnisch funktioniert, ist mein angeheirateter Psychiater der Beweis. Alfred Schnittke war ihm schnuppe. Dann erlebte er vor drei Jahren ein Chorwerk Schnittkes zu den Projektionen versunkener Städte von Pompeji über Hashima bis Angkor Wat im Filmprojekt VINETA mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks. Bildmächtigen Beschwörungen der Endlichkeit. Seither braucht er mich nicht mehr als Nomenklator, wenn er in seinem Hirnkasten nach dem Namen Schnittke kramt.
Herr Schnittke wäre vermutlich nicht beleidigt gewesen. Er liebte das Unabgeschlossene, das Offene in der Musik und wollte, dass sie in jedem anders weiterklingt. Das ist heute wichtiger denn je. Wie die Fantasie der Köche verkümmert, die nur noch eine Schere brauchen, um den Plastiksack mit Convenience-Fertigmischung aufzuschneiden, verkümmert auch unsere Einbildungskraft, wenn jede Art virtueller Welten per Mouseclick frei Haus geliefert wird. Wer diese Kraft beim Musikhören trainiert, vergisst die Musik nicht mehr, weil sie sich mit seinen Erlebnissen, Ängsten und Sehnsüchten durchdringt. Und unvergessbar wollte doch auch ein Benjamin Britten gern sein.
Eva Gesine Baur studierte Literaturwissenschaft, Psychologie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaften. Sie hat zahlreiche Bücher über kulturgeschichtliche Themen und unter dem Namen Lea Singer mehrere Romane veröffentlicht. 2010 wurde ihr der Hannelore-Greve-Literaturpreis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur verliehen.
Werke (Auswahl):
Kommentare (1)
Mittwoch, 20.April, 16:25 Uhr
Sylvio Pretsch
Bilder helfen Tönen und Töne helfen Bildern
Musik ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Sie weckt in uns Emotionen und trägt zu einem hohen Maß zur Regenerierung unserer Seele bei.
Das Internet ist für uns Komponisten Segen und Fluch. Segen aus dem Grund, da das Internet viele neue Möglichkeiten eröffnete. Fluch aus dem Grund, da somit auf die Dauer der Eindruck entsteht, Musik würde nichts mehr kosten, da man sie jederzeit vermeintlich kostenfrei überall anhören kann.
In den vergangenen Jahren fand u. a. dadurch ein extremer Wertverfall unseres Gewerkes statt, was dazu führte, dass weltweit selbst renommierte Tonstudios und etablierte Komponisten ihre Pforten schließen mussten. Nur noch wenige Auftraggeber sind bereit oder in der Lage, uns für unsere Leistungen adäquat zu bezahlen. Wenn kein "Regen mehr vom Himmel fällt", kann keine "Pflanze am Boden" mehr gedeihen. Dies hat natürlich auch negative Auswirkungen z. B. auf Musikinstrumenthersteller, die von uns leben.
Sylvio Pretsch
studio 6/49 Audio Design