Der russische Dirigent Semyon Bychkov ist kein Showtyp, der gern im Rampenlicht steht – dabei ist er ein weltweit gefragter Gast der Spitzenorchester. Bei uns ist Bychkov vor allem durch seine langjährige Ära als Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters in Köln bekannt geworden. Auch beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hat er viele Konzerte dirigiert. Schon früh emigrierte er aus der Sowjetunion. Und äußert sich nach wie vor politisch und kritisch. Heute feiert Semyon Bychkov seinen 70. Geburtstag.
Bildquelle: Nicoletti_Musikverein
Gerade erst hat Semyon Bychkov seinen Vertrag bei der Tschechischen Philharmonie bis 2028 verlängert – die Chemie stimmt eben zwischen dem traditionsreichen Orchester und seinem russischen Chef. Bychkov ist ein politisch hellwacher Kopf – was auch sein flammender Appell gegen den Krieg in der Ukraine zeigt, den man auf der Homepage des Orchesters findet. "Die russische Aggression gegen die Ukraine und die Lügen darüber müssen aufhören, bevor der Rest der Welt in einen weiteren Krieg verwickelt wird. Wir haben kein Recht zu schweigen und zuzusehen, wie sich die Geschichte wiederholt. Diejenigen, die Tod und Zerstörung bringen, müssen vor Gericht gestellt werden und in Schande verschwinden."
Schon 1975 hat Semyon Bychkov, damals 23, die Sowjetunion in Richtung USA verlassen – auch wegen der antisemitischen Anfeindungen in seiner Heimat. Kein Wunder, dass er zur doppelbödigen Symphonik von Dmitrij Schostakowitsch eine besondere Affinität entwickelte. Als er 2002 die Fünfte Symphonie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aufführte, entlarvte er die Botschaft des Komponisten im Finale mit deutlichen Worten. "Man kann zu dem Schluss kommen, dass es sich um einen Triumphzug der Engstirnigkeit handelt, weil diese manchmal siegt – oder zumindest glaubt, den Sieg davongetragen zu haben", erklärte Bychkov. Denn wenn beispielsweise eine Regierung unbeschränkte Machtbefugnisse besitze, dann sei sie schnell im Glauben, dass die Leute alles annehmen würden, was man ihnen erzähle. "So triumphiert Engstirnigkeit – gewissermaßen in der Arroganz, Menschen überzeugen zu können. Dieses Spiel kann man vielseitig beschreiben."
1952 in Leningrad geboren, hat sich Semyon Bychkov seinen Kindheitstraum früh erfüllen können. "Die Idee, Dirigent zu werden, hatte ich schon, bevor ich überhaupt studieren konnte. Ich war acht oder neun Jahre alt, als ich das erste Mal daran dachte", erzählt der Dirigent. Er sei damals in die Glinka-Chorschule in Leningrad gegangen und habe dort im Knabenchor gesungen. Der Chorleiter sei für ihn der erste "Prototyp eines Dirigenten" gewesen. "Damals habe ich aber überhaupt nicht an eine Dirigenten-Karriere gedacht oder an die Möglichkeit, mit renommierten Orchestern zu arbeiten. Das war mein ursprünglicher Wunschtraum."
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Wiener Philharmoniker, Schoenbrunn 2016, Poulenc Concerto Katia Marielle Labeque & Semyon Bychkov
Am Leningrader Konservatorium erhält Bychkov die beste Ausbildung, die man sich vorstellen kann: Er geht nämlich beim legendären Dirigentenlehrer Ilya Musin in die Schule. In New York dann leitet er das Studentenorchester am Mannes College, bevor er seine internationale Karriere startet. In zweiter Ehe heiratet Bychkov die gleichaltrige Pianistin Marielle Labèque – mit den Schwestern Labèque musiziert er bis heute gern.
Zum Triumph wird Semyon Bychkovs Bayreuth-Debüt 2018. Auch im Folgejahr übernimmt er wieder den "Parsifal" – und zeigt, was für ein Könner er ist. Daraufhin hat ihn Festspiel-Chefin Katharina Wagner für die "Tristan"-Neuproduktion 2024 engagiert – und wir können uns auf sein Bayreuth-Comeback freuen, ist Bychkov doch ein überaus überzeugender Wagner-Dirigent.
Sendung: "Allegro" am 30. November 2022 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Mittwoch, 30.November, 09:31 Uhr
Wolfgang
Ich frag mich...
...warum hier in einem Geburtstagsartikel die durch den Musikwissenschaftler Richard Taruskin widerlegte Auffassung von Schostakovich als verkappten Widerstandskämpfer im sowjetischen Russland eingeflochten werden musste (überdies sprachlich sehr unschön: "hinterfotzig" ist der Jubelsatz der 5. Sinfonie gewiss nicht). Mit der löblichen Ausnahme von Jan Brachmann scheinen die deutschen Kulturjournalisten einfach alle Debatten im Ausland zu ignorieren und an ihren bequemen ideologischen Positionen zu verharren.
Und ob die politische Haltung von Bychkov wirklich "hellwach" ist oder nicht einfach nur die bequeme Mainstream-Position, sollte man wirklich auch in Frage stellen können.
Zu den Aufnahmen Bychkovs (seine "Elektra" mit dem WDR-Orchester finde ich beispielsweise sensationell gelungen) kein Wort.
So gerät Musikjournalismus zu einer uninteressanten und uninspirierten ideologischen Pflichtübung.