Wagners "Parsifal" durch eine Augmented-Reality-Brille in die Welt der Videospiele rücken: So wird Regisseur Jay Scheib die Oper nächstes Jahr in Bayreuth inszenieren. Die Brillen bekommt allerdings nur ein Teil des Publikums, es mangelt also an Ausstattung – und das ganz bewusst.
Bildquelle: Bayreuther Festspiele
330 stehen 1937 gegenüber. Diese Zahlen stehen momentan bei der Diskussion um Richard Wagners "Parsifal" im Raum, der nächstes Jahr bei den Bayreuther Festspielen in einer Neuauflage gezeigt werden soll. Regisseur Jay Scheib ist von der Festspielleitung mit der Aufgabe betraut worden, 2023 den "Parsifal" zu inszenieren. Was der US-amerikanische Theatermacher Scheib mit nach Bayreuth bringt, ist seine Faszination für Computerspiele und damit die sogenannte "Augmented Reality". Eine virtuelle Welt, die im Zuschauerraum aber lediglich durch spezielle AR-Brillen erlebt werden kann. Und jetzt kommen die Zahlen ins Spiel: Von den 1937 Menschen im Publikum werden nur 330 mit AR-Brillen ausgestattet. Dem größten Teil des Publikums bleibt damit das vollständige Eintauchen in die Computerwelten verwehrt.
Im vorigen Sommer hatte Scheib der dpa gesagt: «Das wäre richtig toll, ein ganzes Publikum mit Brillen, oder?» Festspielchefin Katharina Wagner wollte sich zu dem Thema heute nicht äußern. Sie hatte sich im Sommer 2021 begeistert von den Ideen Scheibs gezeigt. "Wir haben Großes mit ihm vor", sagte sie damals. "Die ganze Welt spricht von Digitalisierung." Auch darum soll es auf dem Grünen Hügel "das erste Mal eine komplette Inszenierung in Augmented Reality geben".
Regisseur Jay Scheib | Bildquelle: © Jay Scheib Wenn nun allerdings nur gut ein Sechstel des Publikums die künstlerische Idee eines Regisseurs wirklich erfahren kann, dann wirkt die Entscheidung, ihn zu beauftragen, ziemlich halbgar. Kurzum: Warum wurde Jay Scheib als Regisseur mit seiner künstlerischen Handschrift und seinem Hang zur Gaming-Welt dann überhaupt engagiert? Dahinter schwelt wohl ein Streit um Entscheidungshoheiten, über den BR-KLASSIK schon im September 2022 berichtet hat. Seit über einem Jahr war damals schon bekannt, dass Scheibs Inszenierung eine spezielle Ausstattung benötigt, die Anschaffung jedoch wurde vom Verwaltungsrat der Bayreuther Festspiele nicht bewilligt. Bisher hatte die "Gesellschaft der Freunde von Bayreuth", die mit dem Bund, dem Freistaat und der Stadt Bayreuth Teil des Verwaltungsrats der Festspiele ist, in schwierigen finanziellen Situationen oft ausgeholfen. Was steckt nun also dahinter? Finanzielle Schwierigkeiten oder Angst vor Innovation auf dem Grünen Hügel?
Fakt ist, dass Festspiel-Leiterin Katharina Wagner mit ihrem Willen, Neues zu schaffen, immer wieder auch in den eigenen Reihen auf Unmut stößt. So zeigte sich der Dissens bereits am Fall Jonathan Meese im Jahr 2014: Wagner hatte den Regisseur zwar engagiert, doch zu einer Inszenierung kam es nicht. Die Gesellschafter hatten seinen Rauswurf veranlasst, mit dem Argument, er habe sein Budget überzogen. Ihre Vorbehalte aber waren konzeptioneller Natur, das geben sie inzwischen offen zu.
Bildquelle: Bayreuther Festspiele Man darf also gespannt sein, wie sich der Verwaltungsrat in den letzten Monaten vor der Premiere von Jay Scheibs Inszenierung weiterhin positionieren werden. Und ob tatsächlich nur ein Teil des Publikums die Brillen ausprobieren darf. Die fantastische Story um den Ring des Nibelungen und die Musik von Richard Wagner haben auf jeden Fall Potenzial, auch in der Gaming-Szene ihre Fans zu finden; schließlich haben sich zahlreiche Komponistinnen und Komponisten von Game Music-Soundtracks kompositorische Kniffe bei Richard Wagner abgeschaut. Ob Scheibs Inszenierung vielleicht sogar Opern-Interesse bei der Gaming-Community wecken kann, wird sich zeigen. Und natürlich: ob seine Idee beim klassischen Bayreuth-Publikum ankommen wird. Dirigieren wird den neuen Parsifal Pablo Heras-Casado.
Sendung: "Leporello" am 16. Dezember 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (7)
Montag, 19.Dezember, 16:59 Uhr
Wolfgang
@Mr. Holtz
Ich gebrauchte das Wort "verstümmelt" keineswegs - wie von Ihnen behauptet - , um eine Aufnahme der Inszenierung durch eine Brille zu bezeichnen. Mein Kritikpunkt war der, dass die überwiegene Mehrheit der Besucher eine für die VR-Brille (auf die scholastische Unterscheidung zwischen "VR" und "AR" habe ich übrigens bewusst verzichtet) ausgerichtete Inszenierung ohne dieselbe betrachtet muss, was für mich eine groteske Verhöhnung des demokratischen Wagnerischen Festspielgedankens darstellt.
Montag, 19.Dezember, 16:07 Uhr
Marc Alexander Holtz
VR / AR / Anwendbarkeit
Das eine Inszenierung durch eine Brille nur „verstümmelt“ sein kann, ist natürlich eine eher rückgewandte Feststellung. Das man AR und VR nicht verwechselt, ist schon allein darum wichtig, weil man unter der VR Brille auch die normale Brille tragen darf. Das mit BR sehr wohl inszeniert werden kann, zeigen wir in Augsbirg bei Heimspiel und mit den über zehn Produktionen des dortigen Staatstheaters seit zwei mindestens Jahren. Melden Sie sich gern ;)
Sonntag, 18.Dezember, 12:09 Uhr
Heinz Reifenauer
Danke
möchte Ihen für Ihr tolles Programm danken und allen Mitarbeitern ein schönes Fest wünschen
Samstag, 17.Dezember, 14:26 Uhr
Jürgen Otto
Was in dem Artikel vergessen wurde, nachzulesen auf der Seite der Festspiele unter Saison-Überblick 2023:
Was Sie wissen sollten:
Die AR-Brille kann nicht kombiniert mit Ihrer persönlichen Brille getragen werden. Wir empfehlen die Verwendung von Kontaktlinsen. Bei starker Kurzsichtigkeit mit Werten über -8,0 dpt, sowie bei starker Weitsichtigkeit, bei stärkerer Hornhautverkrümmung, hoher Winkelfehlsichtigkeit, oder Schielen, ist die Verwendung der AR-Brille leider nicht möglich.
Kurzsichtigkeit im Bereich von -1,0 dpt bis -8,0 dpt (in Stufen von 0,5 dpt) kann mit eingesetzten Korrekturlinsen, die Sie im Festspielhaus erhalten, ausgeglichen werden. Es ist notwendig, am Aufführungstag ausreichend Zeit einzuplanen, um Ihre AR-Brille hier vor Ort anpassen zu lassen.
Parsifal mit Brille buchbar, ausschließlich in den Kategorien:
Parkett: A4/AR • A5/AR • B4/AR • B5/AR • B6/AR • B7/AR • Loge, Balkon & Galerie:
C1/AR • C2/AR • C3/AR • C4/AR • E1/AR • E2/AR • E3/AR • G1/AR (jeweils Reihe 1)
Samstag, 17.Dezember, 12:29 Uhr
Wolfgang
Kleiner Nachtrag
Das Bayreuther Festspielhaus wurde ja von Wagner extra so konzipiert, dass alle Besucher gleichermaßen teilnehmen sollten, niemand sollte sich - anders als in herkömmlichen Opernhäusern mit ihren Logen - ausgeschlossen vorkommmen.
Wenn man jetzt die überwiegende Mehrheit von einer vollgültigen Inszenierung (egal, ob diese nun sehenswert ist oder nicht) von vorneherein ausschließt, ist der ganze Wagnerische Festspielgedanke, der ja eh schon durch das gegen Wagners Konzept eines Gesamtkunstwerkes verstoßende "Regietheater" besudelt worden ist, vollends ad absurdum geführt.
Samstag, 17.Dezember, 12:18 Uhr
Wolfgang
So sichert man sich gegen einen Buhsturm ab
Ist die Inszenierung unteridisch - so wie unter Katharinas Obhut ja leider bucht ganz unüblich - kann sich das Publikum noch nicht einmal durch kräftiges Buhen teilweise entschädigen.
Man wird ihm das Recht dazu absprechen, da man ja mangels einer VR-Brille nur eine verstümmelte Inszenierung sehen konnte. Die 300 Auserwählten (ok, meine Assoziationen zu dieser Zahl verkneife ich mir) werden ihnen dann versichern, mit Brille sei alles ganz toll gewesen.
Die schöne neue Weltordnung wird also hier also schon mal vorexerziert. Richard Wagner der für eine Volksdemokratie in Dresden auf die Barrikaden ging, dreht sich abermals im Grabe um (falls es nicht mit der Kernfusion klappt, können wir das Grab mittlerweile auch als Energiequelle nutzen, die Anlässe für die Rotation nehmen ja kein Ende).
Samstag, 17.Dezember, 10:04 Uhr
Dr. F. Straßer
Mangel an AR-Brillen
Man kann ja als Vorschlag zur Güte die übrigen 1937 - 330 = 1607 Parsifal-Besucher mit rußgeschwärzten Sonnenbrillen ausstatten, damit sie, wenn schon nicht die Inszenierung in der vorgesehenen Form, wenigstens eine nicht von störenden visuellen Eindrücken angekränkelte konzertante Aufführung erleben dürfen. Die Musik des Parsifal ist es allemal wert. Der Grat zwischen Innovation und Dekonstruktion des Wagnerschen Werkes ist schmal. Waren Castorfs bildmächtiger (und unter Petrenko auch noch musikmächtiger) Ring sowie Kratzers wunderbarer Tannhäuser eine Offenbarung, schlug der aktuelle Schwarz-Ring leider schon ins Gegenteil um. Ich habe ein Faible für Katharina Wagners Experimentierfreude, denn gerade Richard Wagners faszinierendes Gesamtwerk ist nichts für Gralshüter und Lordsiegel-Bewahrer. Das allzu gewagte Überschreiten der unsichtbaren feinen Grenzen kann aber ins Gegenteil umschlagen und den Boden für gediegen-fad-ästhetische Retro-Aufführungen bereiten.