Dmitrij Schostakowitsch hat ihn gefördert, im Westen avanciert der Wahl-Münchner Ende der 1980er Jahre zur Kultfigur: Rodion Schtschedrin zählt zu den bedeutendsten Komponisten der Moderne, sein umfangreiches Werk von Ballett- bis Klaviermusik wird weltweit aufgeführt. Eine bewegte Biographie mit russischen Wurzeln und einem Balanceakt zwischen offizieller Kulturdoktrin und persönlichem Kunst-Bekenntnis.
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Rodion Schtschedrin zum 90. Geburtstag
Komponist der russischen Moderne
Am 16. Dezember 1932 wird Rodion Konstantinowitsch Schtschedrin geboren und als Pianist und Komponist am Moskauer Konservatorium ausgebildet. Und schreibt künftig mit großem Elan für alle musikalischen Gattungen: Literatur-Opern nach Nikolai Gogol und Vladimir Nabokov, Ballette nach Leo Tolstoi und Anton Tschechow, Vokal-, Instrumental- und Klaviermusik, die er oft selbst interpretiert und aufnimmt.
Ich stamme aus dem Chor.
Er kommt aus einer Moskauer Priesterfamilie und ist tief verwurzelt in der russischen geistlichen Musik. Fünf Jahre lang besucht er die Staatliche Chorschule in Moskau, was Spuren hinterlässt. "Ich stamme aus dem Chor", erklärt er seine Liebe zur Chor- und Vokalmusik. Mit seinem Chorwerk "Der versiegelte Engel" um eine Gemeinschaft von Altgläubigen und eine wundertätige Ikone wird er 1988 der erste sowjetische Komponist überhaupt, der eine moderne russische Liturgie schreibt. Das Stück für gemischten Chor und Flöte nach der gleichnamigen Erzählung von Nikolai Leskow steht ganz in der russischen Chortradition, ist beeinflusst von Tschaikowsky und Rachmaninow, verwendet die Melodik des altrussischen Neumengesangs, volkstümliche Füllstimmen und die Imitation von Kirchenglocken.
Tradition muss immer sein.
Dmitrij Schostakowtisch | Bildquelle: picture-alliance/dpa Rodion Schtschedrin ist traditionsverbunden, die russische Folklore und Volksmusik, Dichtung und Literatur prägen sein Werk. "Tradition muss immer sein", meint er einmal, sie ist für ihn die "normale Entwicklung". Durch seinen Kompositionslehrer Jurij Schaporin reicht für ihn eine Verbindungslinie zurück bis Michail Glinka und Alexander Glasunow. Von ihnen allen empfängt er wichtige Impulse. Vor allem aber von Dmitrij Schostakowitsch, seinem großen Mentor und Freund. Wie dieser komponiert auch Schtschedrin einen Klavierzyklus mit 24 Präludien und Fugen. Und vertont ebenfalls Nikolai Leskow, der schon die Vorlage zu Schostakowitschs Oper "Lady Macbeth von Mzensk" lieferte.
Mit Schostaowitsch verbindet ihn eine Seelenverwandtschaft: "Wir haben das gleiche Herz, den gleichen Körper, die gleichen Augen, die gleichen Ohren", schwärmt Schtschedrin.
Schostakowtisch ist es auch, der sich immer wieder für ihn einsetzt, etwa 1967 nach der skandalumwitterten Uraufführung des Balletts "Carmen-Suite" am 20. April 1967 am Moskauer Bolschoi-Theater. Schtschedrins Carmen nach Bizets berühmter Oper war dem damaligen Sowjet-Publikum zu anzüglich, zu impulsiv, zumal in der erotisch aufgeladenen Interpretation durch Primaballerina Maja Plissezkaja, die nur leicht bekleidet und mit nackten Beinen tanzte. "Ihre Carmen wird sterben!", ereiferte sich die seinerzeit stramm auf Parteikurs eingeschossene sowjetische Kulturministerin Jekaterina Furzewa nach der Premiere. Und auch bei den übrigen obersten sozialistischen Kulturrichtern zog das Ballett heftige Kritik auf sich: "Schon die zweite Aufführung wurde verboten, wobei man als Gründe die Beleidigung des Meisterwerks von Bizet und die sexuelle Behandlung der Carmen-Figur nannte", erinnerte sich Schtschedrin, "und erst durch die Intervention Dmitrij Schostakowitschs, der sich im Kulturministerium für mich einsetzte, gelangte das Ballett nach und nach in die Repertoires der Theater."
Von all dem ließ sich die Plissezkaja nicht beirren. "Carmen stirbt, wenn ich sterbe!", soll sie mutig entgegnet haben. Sie gab die Carmen ihres Mannes in rund 350 Aufführungen und tanzte die Rolle noch 1990 mit 65 Jahren.
Maja Plissezkaja als Carmen | Bildquelle: © PA/DPA/Heritage Die rund 40-minütige "Carmen-Suite" ist Schtschedrins bekanntestes Werk, komponiert für die Bolschoi-Primaballerina Maja Plissezkaja, seine Ehefrau. Laut Statistik wird sie jeden Tag irgendwo auf der Welt live gespielt oder im Radio gesendet. Mit diesem Geniestreich, rhythmisch geschärft und voll unerwarteter Wendungen, gelingt der internationale Durchbruch. Schtschedrin kleidet das Liebesdrama der Carmen in elektrisierende Klänge mit einer ungewöhnlichen Besetzung für großes Streichorchester und nicht weniger als 47 Schlaginstrumente, darunter Marimbas, Vibraphon, Bongos, Maracas, Kastagnetten, Crotales und Kuhglocken. Alle Register seiner Verwandlungskünste zieht der Komponist hier, verdreht bekannte Melodien und taucht sie in anderes Licht. Die weltbekannte Habanera etwa beginnt bei ihm als freches Duett von Vibraphon und Pauken, die Torero-Szene läuft nach einer pompösen Steigerung mit tiefem Schlagzeug grotesk ins Leere. (Mariss Jansons zelebrierte die "Carmen-Suite" mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks übrigens 2017 zum 85. Geburtstag Schtschedrins und brachte diese brillant orchestrierte Ballett-Partitur effektvoll zum Leuchten.)
Die Orchesterbesetzung der "Carmen-Suite" mit zwei mächtigen Instrumentengruppen – Streicherapparat und Schlaginstrumente – beeinflusste übrigens Schostakowitschs Entscheidung bei der Besetzung seiner 14. Sinfonie.
Auch sonst gibt es vielfältige schöpferische Berührungspunkte zwischen dem jüngeren und älteren Kollegen, z.B. Schtschedrins 2001 vollendeten Sinfonischen Etüden für Orchester, die "Dialoge mit Schostakowitsch".
1972 wird der Komponist mit dem "Staatspreis der UDSSR" geehrt und ein Jahr später Nachfolger von Schostakowitsch im Amt des Präsidenten des russischen Komponistenverbandes. Ein Amt, das auch mit vielen Privilegien versehen ist, einer Villa etwa samt Hauspersonal.
Doch obwohl Schtschedrins künstlerischer Weg in der Sowjetunion nach außen scheinbar problemlos verläuft, muss er einige lebensgefährliche Balanceakte zwischen offizieller Kulturdoktrin und individueller Kunstaussage bestehen.
Das sowjetische System hat uns alle versklavt.
Rodion Schtschedrin und Maja Plissezkaja | Bildquelle: picture-alliance/dpa
Als "Lebensbeichte" entsteht 1984 das Orchesterstück "Selbstporträt", uraufgeführt 1984 im Moskauer Konservatorium. Es ist ein zutiefst persönliches Werk. "In diesem Werk hat er sein Herz geöffnet", resümiert es Komponistenkollege Boris Tischtschenko. Schtschedrin widmet diese Orchestervariationen sich selbst und lässt neben seinem Monogramm SHCHED immer wieder die traurigen Klänge einer einsamen Balalaika anklingen und die weite Landschaft seiner Heimat. Auf ausdrücklichen Wunsch des Dirigenten Mariss Jansons wurde es auch zum 80. Geburtstag von Rodion Schtschedrin 2012 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München gespielt. "Ich beichte hier mein Leben, meine intimsten emotionalen Gefühle lege ich offen wie ein japanischer Samurai, der den Harakiri, den Selbstmord begeht", bekennt der Komponist. "Außerdem zeige ich darin meine Sicht auf die Welt, die mich umgibt und mich beherrscht. In diesem Fall meine ich das sowjetische System, das uns alle versklavt hat."
Seiner Autobiographie gibt er 2008 den Titel: "Was man schreibt, ist unantastbar".
Nach Perestroijka und Wende Ende der 1980er Jahre wird aus dem Geheimtipp die Kultfigur Rodion Schtschedrin, etwa beim Münchner Klaviersommer, wo er 1983 erstmals gastiert und überrascht.
Er ist weltoffen, pendelt zwischen Moskau und der bayerischen Landeshauptstadt und serviert seinem Publikum im Jahr 1992 den bittersüßen "Stalin-Cocktail" für Violine und Orchester ebenso wie seinen Opern-Zweiakter "Lolita".
Über viele Jahre arbeitet er eng zusammen mit dem Münchner Rundfunkorchester, mit Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Seit den 1990ern lebt er fest in München, bleibt daneben aber weiterhin dem Orchester des Marinskij-Theaters und Valery Gergiev verbunden.
Für Schtschedrin sind seine russischen Wurzeln immer präsent geblieben. In seinen Kompositionen, aber auch in seiner Eigenschaft als Pianist. Wie schon Skrjabin, Rachmaninow, Prokofjew oder Schostakowitsch, setzt auch Schtschedrin die russische Tradition fort und führt seine Klavierwerke vor allem in frühen Jahren selbst auf. Brillant und mit funkensprühenden Jazz-Einlagen ist er etwa mit seinem Zweiten Klavierkonzert 1974 in Moskau zu erleben mit dem Symphonieorchester der UDSSR unter Jewgenij Swetlanow.
Ich habe einfach Musik geschrieben. Ehrliche Musik, die ich in meinem Inneren gehört habe.
Die Originalität und Gegensätzlichkeit von Schtschedrins Komponieren hat einmal der Dirigent und Pianist Michail Pletnjew treffend zusammengefasst: "Die Verbindung von glänzendem Scharfsinn mit dem tiefen Verständnis des Dramas, des raffinierten Gedankens mit dem wuchtigen musikalischen Aufbau, des kühnen und manchmal frechen Experiments mit der langen russischen Tradition multipliziert mit der qualitativ höchsten Kompositionstechnik – all das hat mich schon immer am kompositorischen Schaffen Rodion Shchedrins fasziniert."
Und Schtschedrin selbst beschreibt sein Schaffen mit den Worten: "Ich habe einfach Musik geschrieben. Ehrliche Musik. Ich bin von ihr überzeugt. Musik, die ich in meinem Inneren gehört habe. Den einen verärgert oder kränkt sie, den anderen berührt sie. Ich bin glücklich, dass ich mein Leben in der Musik gelebt habe. Glücklich, dass ich in Russland geboren wurde."
Aktiv bis ins hohe Alter, hochdekoriert und mit unzähligen Ehrungen bedacht, unterstützt Rodion Konstantinowitsch Schtschedrin, Pianist und kompromissloser Komponist der russischen Moderne, auch den musikalischen Nachwuchs. In Moskau trägt eine Musikschule seinen Namen.