Denkt man an Norwegen, haben viele zunächst atemberauben Landschaften vor Augen. Beeindruckend wie sie sind, verstellen Berge und Fjorde vielleicht manchmal den Blick für den kulturellen Reichtum des Landes. Das nordnorwegische Bodø ist Europäische Kulturhauptstadt 2024 und zeigt, dass Natur und Kultur eine schöne Verbindung eingehen können. Zum Beispiel mit einem Orchesterwerk des bayerischen zeitgenössischen Komponisten Gregor Mayrhofer.
Bildquelle: Rune Stoltz Bertinussen
Bevor im Konzertsaal der Stadt Bodø das Konzert beginnen kann, verlassen die Musikerinnen und Musiker erstmal die Bühne. Sie verteilen sich entlang des Zuschauerraums und im nächsten Moment wendet das Publikum die Köpfe nach links und rechts, denn von den Seiten und aus den Ecken erklingen seltsame Töne. Ein Pfeifen und Zirpen, ein leises Surren und Brummen. Langsam bewegen sich die Musikerinnen und Musiker der "arktisk filharmoni", der arktischen Philharmoniker, nach vorn auf die Bühne. Dort entwickeln sie in den nächsten zehn Minuten mal ein leises Krabbeln, mal ein wildes Hin und Her; mal hektisches Summen, mal gemütliches Brummen. Oft sind nur wenige Stimmen zu hören, dann wieder alle gleichzeitig. Man meint Ameisen zu hören und Grillen, Mücken und Bienen, Libellen und vielleicht mal den Klaps einer Menschenhand oder das Schnalzen einer Froschzunge. Zum Schluss verlassen alle wieder die Bühne und nur die Grille bleibt – bis zum letzten Flügelschlag.
Das ist das "insect concerto" des Wolfratshauser Komponisten Gregor Mayrhofer. Es kommt in Bodø zur Aufführung im Eröffnungskonzert des Percussion-Festivals "Bodø Beat" und Mayrhofer hat es sich nicht nehmen lassen, dafür selbst hierher zu reisen, in die Stadt nördlich des Polarkreises. "Ich war noch nie so weit im Norden und dachte, das ist bestimmt mal ein Erlebnis", erzählt er und lacht. "Und es ist tatsächlich ein großartiges Erlebnis, auch die Musiker kennenzulernen, und das ist ein ganz besonderes Festival hier."
Arktisk Filharmoni spielen Gregor Mayrhofers "Insect Concerto" in Bodø in Norwegen. | Bildquelle: Yngve Olsen Vom Orchester, das sich auf die Standorte Bodø und das noch weiter nördlich gelegene Tromsø verteilt, ist Mayrhofer begeistert: Musikalisch hervorragend sei es und gleichzeitig offen für Neues und für das, was sein Stück ihnen abverlangt. Und das ist einiges: Die Kontrabassisten zum Beispiel stochern mit den Enden ihrer Bögen zwischen die Saiten, benutzen den Korpus als Trommel und wischen mit der ganzen Hand über das Griffbrett. Die Geigerinnen und Geiger zupfen, tipsen und klopfen auf die Saiten und lassen ihre Bögen kräftig durch die Luft sausen. Und die Harfenistin klemmt ein Blatt Papier zwischen die Saiten, das beim Anschlagen vibriert und der Ton schabt und scheppert. Vor allem Oganes Girunyan, der als Erster Geiger gleichzeitig die Erste Grille gibt, ist besonders gefordert: "Es ist schwierig, weil es so ungewöhnlich ist", sagt er. "Man muss sehr genau sein. Es ist schwierig, so schnell abzuschätzen, wo genau man spielen muss. Und man muss sehr schnell wechseln, weil das Tempo sehr hoch ist."
Mein persönliches Lieblingsinsekt ist die Zikade. Die zirpt in einer Original-Aufnahme tatsächlich im Fünf-Achtel-Takt.
Aber warum überhaupt ein Stück über Insekten? Die Idee entstand vor ein paar Jahren bei den Berliner Philharmonikern, Mayrhofer hatte dort gerade als Assistent angefangen. Gemeinsam mit der Umweltschutz-Organisation WWF wollte man auf das Insektensterben aufmerksam machen. Eine Werbeagentur half mit und eine Insektenforscherin. Und Mayrhofer hörte sich erst einmal durch Aufnahmen von Insektengeräuschen. "Ich dachte am Anfang, ich weiß ja, wie eine Grille klingt", erzählt er. "Aber erst beim Anhören dieser Klangbibliotheken wurde mir bewusst, wie vielfältig die Geräusche eigentlich sind. Mein persönliches Lieblingsinsekt ist die Zikade. Die zirpt in einer Original-Aufnahme tatsächlich im Fünf-Achtel-Takt." Da dachte sich der Komponist: Warum das Rad – beziehungsweise die Töne – neu erfinden? "Ich fand es toll, wenn die Hauptmotive nicht von mir erfunden werden, sondern, wenn man so will, von den Insekten selbst komponiert."
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Komponist Gregor Mayrhofer | Bildquelle: Luc Hossepied, 2016 Das "insect concerto" passt perfekt nach Norwegen – in ein Land, in dem Kultur ohne Natur kaum denkbar ist, weil beides so eng miteinander verwoben ist. Das ist zwar nicht der Grund, warum es für das Eröffnungskonzert ausgewählt wurde; aber es fügt sich dennoch ideal ins Programm der Kulturhauptstadt ein, die mit vielen Veranstaltungen die Verbindung von Kultur und Natur darstellt. Und auch in Norwegen ist die Natur weder überall unberührt noch überall gesund; Naturschutz ist ein globales Thema. "Wir dürfen als Menschen nicht vergessen, dass wir eigentlich aus der Natur kommen", sagt Mayrhofer. Sein "insect concerto" soll ein Beitrag sein, sich der Bedeutung der Natur für uns Menschen bewusst zu bleiben. Auch im Konzertsaal.
Gregor Mayrhofer hat sein Konzert nach langen Studien von Insektenlauten geschrieben und präsentiert sein Werk auch am 30. Juni um 19:00 Uhr im Herkulessaal in München. Dazu wird als Kontrast die 8. Sinfonie von Antonín Dvořák gespielt, in der sich auf ganz andere Weise die Schönheit der Natur widerspiegelt.
Sendung: "Leporello" am 27. Mai ab 16:05 Uhr und "Allegro" am 29. Mai ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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