Am 5. April 1923 nimmt King Oliver’s Creole Jazz Band die wichtigsten bis dahin entstandenen Platten des Jazz auf. Auf einer spielt sein Schützling Louis Armstrong sein erstes Solo, im "Chimes Blues".
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Das Aufnahmestudio der Plattenmarke Gennett in Richmond, Indiana, ist nichts weiter als ein enger Schuppen neben einer Eisenbahnschiene. Das stehen sie nun und spielen - wie in den Zeiten vor der Erfindung des Mikrophons üblich - in einen riesigen Trichter und passen die Momente ab, an denen kein Rattern und Tuten von den Gleisen herüberdröhnt. Sie, das sind: King Oliver, der König der Kornettisten, und einige Meter hinter ihm sein Schützling Louis Armstrong, der zwar offiziell nur das zweite Kornett bläst, das aber so laut, dass es die Kollegen und das Aufnahmeteam schier umhaut und die Balance der Aufnahme zu verzerren droht. Mit dabei: die Pianistin Lil Hardin, bald die zweite Frau Armstrongs und die erste berühmte Instrumentalistin des Jazz. Außerdem zwei Brüder, die zu den gewichtigen Jazzpionieren gehören: der Klarinettist Johnny Dodds und der Schlagzeuger Baby Dodds. Des Weiteren der Posaunist Honore Dutrey sowie Bud Scott oder Bill Johnson am Banjo - beide wollen dabei gewesen sein. Auch das gehört zu den abenteuerlichen Produktionsbedingungen jener Zeit, dass die Namen der einzelnen Musiker nicht auf der Platte verzeichnet werden. Darauf stehen nur: Titel, Komponist - und der Name der Band. Wer nach einer Minute und 53 Sekunden nach den zarten Glöckchen-Klängen vom Klavier plötzlich ein imposantes Kornett-Solo hört, muss annehmen, es stamme von King Oliver, denn er steht als Bandleader und Komponist auf der Platte.
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King Oliver's Creole Jazz Band plays "'Chimes Blues" on Gennett 5135 (1923)
King Oliver’s Creole Jazz Band trug damals dazu bei, dass Chicago die neue Jazzhauptstadt wurde. Die Band legte mit ihren vielen Aufnahmen von 1923 das erste mustergültige Dokument des New Orleans Jazz vor. Die Musik der afroamerikanischen Pioniere der Geburtsstadt des Jazz war zuvor extrem selten aufgenommen worden, etwa vom Posaunisten Kid Ory 1922 in Los Angeles. In New Orleans selbst dokumentierte man den Jazz erst von 1924 an, lange nach dem Exodus der berühmten Musiker. Und außerhalb der Stadt bevorzugten die Plattenfirmen seit 1917 weiße Bands.
Sehen Sie hier ein Video mit Louis Armstrong zu Gast beim Bayerischen Rundfunk von 1962.
Das änderte sich zu Beginn des neuen Jahrzehntes, als man im Zuge der Blueswelle Afroamerikaner als lukrative Käuferschicht entdeckte - nachdem man ihnen vorher nicht einmal zugetraut hatte, ein Grammophon zu besitzen. Doch auch dann noch kamen vor allem Kollegen aus der Musikhauptstadt New York zum Zuge, deren Musik anders klang: solobetonter, überdrehter, virtuoser als das „real thing“ aus New Orleans, das keiner besser repräsentierte als King Oliver und das bodenständiger, beherrschter, vor allem gruppenorientierter war.
Bildquelle: picture alliance In New Orleans hatte der Jazz noch die Charakteristika einer regionalen Volksmusik besessen, die sie beim künstlerisch planvoll gestaltenden King Oliver bereits ablegte. Aber die Spielhaltung ist noch die gleiche: Wie bei Blaskapellen heute noch, steht der Ensemble-Sound im Vordergrund; nur kurz und vorübergehend brillieren Solisten. Das 1. Kornett führt zwar die Band, doch Klarinette und Posaune bilden mit ihm ein ständiges Stimmengeflecht, das nie nur Begleitung ist. Sie fordern die gleiche Aufmerksamkeit des Hörers. Dieses Ideal eines polyphonen Zusammenspiels, in der ersten Hälfte des "Chimes Blues" gut zu hören, verwirklicht Oliver besonders typisch in den Aufnahmen von 1923, spät genug, fast schon zu spät. Denn die Musik der Künstler aus New Orleans verändert sich in Chicago, der großen Industriestadt des Nordens. Sie nimmt modernere Züge an, die schon in diesem kurzen Armstrong-Solo kurz vor Schluss aufblitzen: erste Schritte des späteren Starvirtuosen.
Es ist, als hätte Oliver eine Tür aufgestoßen. Nach ihm kommen im Laufe des Jahres 1923 (fast) alle großen Jazz-Pioniere aus New Orleans vor den großen Trichter: Doch jeder verändert dann den New Orleans Stil in eine andere Richtung. Bei Jelly Roll Morton steht die Band ganz im Dienst eines genialen Komponisten, und Sidney Bechet wird auf dem Sopransaxophon, einem Instrument, das in New Orleans noch überhaupt keine Rolle spielte, die Führungsrolle übernehmen … Bei King OIiver aber ist die Musik noch das Teamwork von Musizierenden, die sich heiter, gelöst und gelassen auf gleicher Augenhöhe begegnen.
Sendung: "Jazztime" am 30. März 2023 ab 23:05 Uhr auf BR-KLASSIK