Während Airlines alle Sitzplätze ihrer Flugzeuge besetzen können, sind die Theater und Konzertsäle seit Monaten geschlossen. Selbst im Sommer 2020 durfte nur wenig Publikum in bayerischen Theatern, Kinos und Konzertsälen sitzen. Viele Kunst- und Kulturschaffende empfinden diese Unterschiede als ungerecht. Gibt es aber vielleicht gute Gründe für die unterschiedliche Behandlung?
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Sommer 2020: Die Urlaubssaison beginn, die ersten Flieger starten voll besetzt mit mehr als 200 Passagieren. In bayerischen Konzertsälen und Theatern gilt hingegen: Maximal 100 Personen im Publikum, Abstand halten, Maskenpflicht. "Natürlich kommen wir Künstler uns doch etwas veräppelt vor in letzter Zeit", sagt der Geiger Linus Roth damals im Gespräch mit BR-KLASSIK. "Wie kann es sein, dass man mit einem vollen Flieger fliegen kann und wir spielen in einem Saal mit 2.000 Sitzplätzen und es werden 50 Personen reingelassen? Das erklärt sich mir nicht."
Wie Linus Roth fühlen sich im Corona-Sommer 2020 viele Kunst- und Kulturschaffende. Ende Juni dürfen zwar wieder 100 Menschen im Publikum sitzen – bei Freiluftveranstaltungen auch 200 – aber das ist damals vielen immer noch zu wenig. Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege hingegen hält die Publikumsgröße für angemessen und erklärt: "Der längere Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüftbaren Räumen kann die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole erhöhen." Deshalb werde in geschlossenen Räumen die Zahl der Teilnehmer niedriger angesetzt. Ein weiterer Aspekt sei die Nachverfolgbarkeit von Kontaktpersonen im Falle eines Teilnehmers, bei dem nachträglich COVID-19 diagnostiziert wird. "Je größer die Gruppe der Teilnehmenden, desto komplexer ist die Identifikation von engen Kontaktpersonen und desto mehr Kontaktpersonen könnten möglicherweise auch betroffen sein."
Weitere Lockerungen sollten von der Pandemieentwicklung abhängen, so ein Ministeriumssprecher damals. Solange gilt: 1,5 Meter Abstand, drinnen und draußen. Aber warum dürfen dann in Flugzeugen alle Plätze besetzt werden? Die Airlines begründen das vor allem mit dem speziellen Belüftungssystem in Flugzeugen, das permanent neue Luft zuführt und so die Virenkonzentration in der Luft gering hält. Sogenannte HEPA-Filter können dabei kleinste Teilchen und auch Viren aus der Luft herausfiltern, erklärt der Pressesprecher der Lufthansa, Helmut Tolksdorf. "Die Luft wird unten abgesaugt und dem Filter zugeführt und von oben in die Kabine gepumpt, sodass ein vertikaler Luftstrom erzeugt wird, und die horizontalen Luftströme minimiert werden."
Minimiert ja, verhindert werden können Luftströmungen aber nicht, gibt Dieter Scholz zu bedenken, Professor für Flugzeugbau an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. "Diese Viren verteilen sich dann nicht nur innerhalb einer Sitzreihe, sondern über mehrere Sitzreihen, vielleicht sogar über das ganze Flugzeug. Das haben Strömungssimulationen gezeigt."
HEPA-Filter (High Efficiency Particulate Air Filter) können kleinste Teilchen aus der Luft filtern. | Bildquelle: picture alliance/Andreas Arnold/dpa Damit wir uns anstecken, müssen wir eine bestimmte Anzahl an Viren einatmen. Befindet sich eine erkrankte Person in einem großen Theater oder Konzertsaal, verteilen sich die Viren in der Luft, die Virenkonzentration ist gering. Personen, die weiter entfernt sitzen, atmen relativ wenig Viren ein. "Im Unterschied zum Flugzeug", sagt Dieter Scholz. "Wenn ich mir dort eine Armlehne mit jemandem teilen muss und diese Person hustet, dann geht eine Virenwolke von dieser Person aus, und ich werde mit einer hohen Konzentration von Viren getroffen."
Ein freier Sitz zwischen den Passagieren würde für zusätzliche Sicherheit sorgen, ist sich Dieter Scholz sicher. Der ist aber im öffentlichen Verkehr nicht verpflichtend, wenn eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen wird. "Da gibt es sicher eine Ungerechtigkeit zwischen den unterschiedlichen gewerblichen Einrichtungen."
Angesichts der Regelungen im Flugzeug will Linus Roth sich weiter für Kulturveranstalter einsetzen. Denn je später die Lockerungen, desto mehr insolvente Kunst- und Musikschaffende, befürchtet er. "Wir müssen die Kunst wieder rausbringen, aber wir müssen auch dafür kämpfen, dass wir es dürfen. Stellen Sie sich ein Leben vor ohne Oper, ohne Konzerte, auch ohne Rockkonzerte. Wenn es all das nicht mehr gibt, dann geht uns unglaublich viel kaputt. Und das dürfen wir nicht zulassen."
Dieser Artikel wurde am 23. Juni 2020 erstmals veröffentlicht und am 5. März 2021 aktualisiert.
Kommentare (3)
Freitag, 26.Juni, 21:00 Uhr
Wilfried Schneider
Notwendigkeit
Dass für manche Mitbürger Kultur nicht notwendig ist, ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Dass für manche Mitbürger der Besuch von Kulturveranstaltungen ein Risiko darstellt, kann ich nachvollziehen. Nur soll es auch Mitbürger geben, für die kulturelle Veranstaltungen essentieller sind, als für den Teil der Mitbürger, für die Kultur eben ein Risiko darstellt. Für mich beispielsweise stellt der Besuch von Fußballspielen ein Risiko dar, da ich davon keine Ahnung habe. Alles klar?
Freitag, 26.Juni, 08:09 Uhr
L. Gerer
Notwendigkeit
Die Frage, warum Fluglinien von Empfehlungen abweichen, kann gestellt werden. Die Frage, warum in Flugzeugen keine Plätze frei bleiben müssen, kann gestellt werden. Sogar die Frage, ob jede*r, die mit einem Flugzeug fliegt, tatsächlich fliegen müsste, kann gestellt werden. Doch die Frage, warum Theater nicht genauso wie Fluglinien vorgehen dürfen, kann so nicht gestellt werden: Flugzeuge sind - wie Busse und Bahnen auch - öffentliche Verkehrsmittel. Eine Reise mit einem solchen Verkehrsmittel kann notwendig sein, z.B. um einen Menschen, der in Not ist, beistehen zu können, oder um einen beruflichen Termin wahrnehmen zu können. Eine Theateraufführung kann für Künstler*innen notwendig sein, um ihr Einkommen und damit ihr Überleben zu sichern. Und eine Theateraufführung ist möglicherweise für das Publikum schön, aber sie ist eben nicht notwendig. Solange nicht notwendige Risiken zu unterlassen sind, liegt hier keine unberechtigte Ungleichbehandlung vor.
Donnerstag, 25.Juni, 09:20 Uhr
Christian Palm
Klage wegen Ungelichbehandlung
Ich verstehe ich nicht, daß die gut bezahlten Intendanten nicht aufstehen und Klage wegen Ungleichbehandlung einreichen.