Sie waren das Opern-Dream Team zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss haben das Musiktheater-Repertoire um zahlreiche Klassiker bereichert, vom "Rosenkavalier" über "Die Frau ohne Schatten" bis zu "Arabella". Aber schon ihre erste Zusammenarbeit erwies sich 1909 als großer Wurf: "Elektra" gehört bis heute zu den meistgespielten Opern, die Titelrolle gilt als eine der wichtigsten Figuren der Operngeschichte.
Bildquelle: picture alliance / BARBARA GINDL / APA / picturedesk.com | BARBARA GINDL
Der Wahnsinn hat einen Namen: Elektra. Gerade hat ein Massaker stattgefunden, ein Familiendrama im Palast von Mykene: Elektras Bruder hat die gemeinsame Mutter umgebracht, und deren Liebhaber gleich noch mit dazu. Tödliche Schläge, gellende Schreie, die Überlebenden blutbespritzt. Und Elektra? Sie weint nicht, sie taumelt nicht, sie ist weder erschrocken noch schockiert. Nein, Elektra tanzt. Einen euphorischen, ekstatischen, irren Triumphtanz. Nie klang ein Walzer in Dur so grausig.
Bildquelle: © Monika Rittershaus Seit vielen Jahren schon ist Elektra eine Getriebene, besessen von einem einzigen Gedanken: Rache. Modern gesprochen: eine traumatisierte Frau. Einst musste sie miterleben, wie ihr Vater, der König Agamemnon, ermordet wurde, erschlagen mit einem Beil von ihrer Mutter und deren Geliebten. Das Verbrechen ist lange her, die anderen haben sich längst mit der Situation arrangiert, sie wollen einfach ihr Leben leben, auch wenn nun eine Mörderin auf dem Thron sitzt. Elektra aber kann nicht vergessen und schon gar nicht verzeihen. Jeden Tag bohrt sie in der Wunde, predigt den Hass. Sie steht für den ewigen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, die vielen privaten, politischen, ethnischen Konflikte, die heillos von Generation zu Generation weitergetragen werden. Sie ist Gesang gewordener Rachedurst.
Tannhäuser, Carmen, Aida und Co. – was macht die berühmtesten Opernfiguren eigentlich aus? BR-KLASSIK wirft einen Blick in die persönlichen Abgründe der wichtigsten Charaktere der Operngeschichte.
Elektra ist eine mörderische Rolle – auch im übertragenen Sinne. Über die ganzen zwei pausenlosen Stunden hinweg ist sie praktisch permanent im Einsatz, muss gegen das riesige, einhundertelfköpfige Orchester ankommen – die vielleicht monströseste Partie im hochdramatischen Sopranfach. Und dabei genügt es nicht, stimmgewaltige Rachefurie zu sein. Denn der Dichter Hugo von Hofmannsthal zeigt Elektra auch von ihrer zärtlichen, liebevollen Seite – als sie in einer berührenden Szene nach langen Jahren wieder ihrem Bruder Orest begegnet.
Bildquelle: picture-alliance / akg-images | akg-images / Gert Schuetz Ausgerechnet Elektra, diese archaische Figur, hat Richard Strauss zu seinen modernsten Klängen inspiriert. Der Einakter ist seine kühnste Partitur. Grelle Farben, blutige Dissonanzen, kreischende Akkorde, die die Grenzen der Tonalität so weit ausdehnen, bis sie zu explodieren droht. Schon in den ersten Tönen ist die Katastrophe angelegt: ein wuchtiger, gebrochener Moll-Dreiklang, der als Klangchiffre für den ermordeten König Agamemnon steht und wie ein Fluch über der ganzen Oper liegt, wieder und wieder auftaucht, bis zum bitteren Ende. Ein dichtes Netz aus solchen Leitmotiven sorgt für Vorahnungen und Vorausdeutungen. So werden Strauss und Hofmannsthal zu Urahnen des Horrorfilms.
Am Ende vollzieht nicht Elektra die Rache, sondern ihr Bruder Orest; nicht einmal das Mordwerkzeug, das Beil, mit dem schon ihr Vater erschlagen wurde und das sie so lange aufbewahrt hat, steuert sie bei. Aber sie feiert das Blutbad, tanzt, bis sie zu den brutalen Schlussakkorden zusammenbricht. Der Rachefurie stirbt, weil sich ihre Mission erfüllt hat. Nach 110 Minuten Klanggewalt und Farbenrausch fühlt man sich erschlagen – und fasziniert. Elektra elektrisiert – bis heute. Weil sie uns einen Blick in den Abgrund werfen lässt. Den Abgrund in uns.
Kommentare (0)