"1923 war ein Jahr multipler Krisen in Deutschland", sagt der Musikwissenschaftler Tobias Bleek. Der sogenannte "Ruhrkampf", die Hyperinflation und der Hitler-Ludendorff-Putsch sind da nur drei Stichworte zu der politischen Krisensituation. Wie wirkten sich diese Krisen auf das Musikleben aus? Welche Rolle spielte Musik in diesem Krisenjahr?
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Das Jahr 1923 begann mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen am 11. Januar – eine Reaktion auf ausbleibende Kohle-, Koks-, Stahl- und Holzlieferungen. Die Besatzer sollten dafür sorgen, dass Deutschlands Reparationsverpflichtungen eingehalten werden. Die junge Weimarer Republik ächzte unter der Last, die nach dem 1. Weltkrieg im Versailler Vertrag festgelegt worden waren. Jetzt rief in Berlin die Reichsregierung zum passivem Widerstand gegen die Besetzung auf. Der monatelange Widerstand war nicht zu bezahlen und heizte die berühmte Hyperinflation an.
"Lieder sind im Prinzip das primäre Mittel gewesen, musikalisch diesen passiven Widerstand zum Ausdruck zu bringen", sagt Tobias Bleek, Autor des Buches "Im Taumel der Zwanziger, 1923: Musik in einem Jahr der Extreme" (2023). Auf den Straßen provozierte man mit vaterländischem Liedgut. Aber auch in den Konzertsälen wurde mit Musik Politik gemacht. Musik von Tschaikowski, Respighi oder Bizet wurde beispielsweise aus Programmen gestrichen und durch Beethoven ersetzt – gerne durch die 3. Sinfonie, die Eroica. "Eine Gedankenfigur, die sich in unterschiedlichsten Formen durch das Jahr zieht lautet: ‚Solange wir Beethoven haben und uns auf unsere kulturellen Werte berufen, ist Deutschland noch nicht verloren‘", sagt Tobias Bleek. Beethoven repräsentierte in diesem Fall die deutsche Nation.
"Eine repräsentative Musik für das Jahr 1923 gibt es aber nicht", meint die Musikprofessorin Friederike Wißmann, Autorin des Buches "Deutsche Musik" (2015). Zu vielseitig und auch widersprüchlich war das, was in diesem Jahr komponiert und gespielt wurde. "1923 gibt es ein echtes Aufeinandertreffen der Moderne mit der Tradition", sagt Wißmann. Während Arnold Schönberg in einem neuen 12-Ton-System komponierte, habe zum Beispiel Erich Wolfgang Korngold an der Tonalität festgehalten und die Romantik fortgeschrieben, so die Expertin. Viele zeitgenössische Komponisten schrieben 1923 teilweise zum ersten Mal ganz klassisch Streichquartette – dann aber auch drittel- oder vierteltönig wie Alois Hába. "Und Paul Hindemith hat die ganze Gattung mit der Komposition von ‚Minimax‘ im Prinzip verulkt", ergänzt Tobias Bleek.
In den Musikzeitschriften der Zeit wird um Musikstile heftig debattiert. "Es geht dabei immer ums Ganze", sagt Friederike Wißmann. Der zeitgenössische Musikkritiker Adolf Weissmann fasste es 1922 in seinem Buch "Die Musik in der Weltkrise" am Beispiel des Komponisten Arnold Schönberg so zusammen: "Schönberg ist eine Macht. Die einen sagen: die der Finsternis; die anderen: die der Erleuchtung." Für Friederike Wißmann zeigt sich im Zank und Zoff um die Musik, welche enorme Rolle Musik im Jahr 1923 für die Identifikation der Menschen spielte.
1923 melden sich aber auch solche Zeitgenossen mit Musiktheorien zu Wort, die alles Neue in der Musik strikt ablehnen und zugunsten einer vermeintlich wahrhaft "Deutschen Musik" ausgrenzen wollten. "Es wird alles abgelehnt, was wir mit der Moderne assoziieren. Es wird alles abgelehnt, was dissonant ist", erläutert Wißmann. "In diesen Schriften wird viel öfter gesagt, was nicht sein darf, und es wird viel stärker abgegrenzt, als dass tatsächlich formuliert wird, woran man ‚Deutsche Musik‘ erkennen könne." Das vermeintlich Ursprüngliche der deutschen Musik sollte vor sogenannten ‚zersetzenden’ Einflüssen geschützt werden, so die Musikwissenschaftlerin weiter: "Die rhetorischen Figuren und die Diskreditierungsstrategien, die wir in der Politik finden, finden sich fast eins zu eins auch in musiktheoretischen Schriften."
Im Herbst 1923 sank der Geldwert anfänglich von Tag zu Tag und zum Schluss von Stunde zu Stunde. Auch das Kulturleben ächzte unter der Situation. Im November 1923 kostete ein Brot 140 Milliarden, ein Stehplatz in der Münchner Staatsoper 180 Milliarden, ein Logenplatz 4 bis 5 Billionen Papiermark. Trotzdem konnte das Kulturleben einigermaßen aufrecht erhalten werden, sagt Bleek: "Bei größeren Institutionen wie zum Beispiel den Berliner Philharmonikern gab es einen ziemlich regulären Spielbetrieb, und die Furtwängler-Konzerte waren nach wie vor ausverkauft."
Zwischen der anti-republikanisch handelnden Staatsregierung in Bayern und der Reichsregierung in Berlin nahmen die Spannungen im Herbst 1923 nach Abbruch des "Ruhrkampfes" dramatisch zu. Adolf Hitler, der in den bayerischen Putschplänen eine führende Rolle spielen wollte, ließ Ende September 1923 seine Sturmabteilung auf dem sogenannten "Deutschen Tag von Bayreuth" aufmarschieren. Wichtiger als die reichsweit wenig wahrgenommene Versammlung war dabei Hitlers Treffen mit der Familie Wagner. Winifred und Sigfried Wagner luden Hitler für den Folgetag zu einem Frühstück ein – und der radikale Antisemit und NSDAP-Vorsitzende nutzte die Situation: Hitler präsentierte sich als begeisterter Wagnerianer und kultivierter Musikliebhaber. "Man kann sagen, es ist der Versuch eines Charismatransfers von Richard Wagner zu Adolf Hitler", so Bleek.
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"Der Pakt Hitlers mit Bayreuth wurde in diesem Jahr geschlossen", sagt Friederike Wißmann. "Hitler hat seine Förderung von Bayreuth zugesagt und die bekanntlich freundschaftlichen Verhältnisse Adolf Hitlers zur Familie Wagner finden hier ihren Ursprung." Obwohl der Hitler-Ludendorff-Putsch am 8. und 9. November bekanntlich scheiterte, hatte Hitler 1923 in der national-konservativen und antisemitischen bürgerlichen Gesellschaft an Boden gewonnen. "Gerade für den bürgerlichen Teil der Bevölkerung, die sich im Konzerthaus oder in der Oper fanden, hat Musik dann auch eine eigentümliche Brücke in das bürgerliche Lager gebaut", so Wißmann. "Die Ideologie wurde damit in gewisser Hinsicht durch die Musik nobilitiert."
Sendung: "KlassikPlus-Musikfeature" vom 27. Oktober 2023 auf BR-KLASSIK
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