Er war einer der Giganten unter den Dirigenten des 20. Jahrhunderts: Otto Klemperer war nicht nur ein genialer Orchesterleiter mit einem riesigen Repertoire von Bach bis Schönberg, sondern auch ein experimentierfreudiger Opern-Reformer und unbeugsamer Streiter für die Kultur. Klemperers Lebensweg steht zudem exemplarisch für ein jüdisches Künstlerschicksal im Dritten Reich. Eine Würdigung zum 50. Todestag des Jahrhundert-Dirigenten.
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„Die Kunst des Dirigierens liegt meiner Ansicht nach in der Suggestion, die der Dirigent sowohl auf das Orchester als auch auf das Publikum ausübt. So kann es vorkommen, dass durch diese Suggestion das Niveau eines eigentlich mittelmäßigen Orchesters enorm gesteigert wird – und umgekehrt wiederum, dass die Kunst eines hochrangigen Orchesters durch einen mäßigen Dirigenten vermindert wird.“ – Otto Klemperer
Mit dem Schlachtruf "Werktreue!" gehen konservative Opernfans gern auf die Barrikaden gegen das sogenannte "Regietheater". Einer, der zwar die Partituren absolut textgetreu ausdeutete, gleichzeitig aber mit liebgewonnenen, oft nur schludrigen Aufführungs-Konventionen brach, war der deutsche Dirigent Otto Klemperer. "Klemperer galt als Exponent eines Interpretationskonzepts, das gegen die romantische Espressivo-Tradition eine Werkdarstellung setzte, die als klar, sachlich, streng und zugleich leidenschaftlich beschrieben werden kann", so Andreas Eichhorn im "Handbuch Dirigenten". Und weiter: "Die vermeintliche Sprödigkeit seiner Wagner-Aufführungen fiel dem Publikum negativ auf, Klemperers Kölner Kapellmeister Paul Dessau hingegen lobte die Kühle und das 'Antikulinarische' an dessen Stil." Der Philosoph Ernst Bloch, der mit Klemperer in freundschaftlichem Austausch stand, hat in einer Rezension über Klemperers "Fidelio" die Janusköpfigkeit von dessen Musizierstil pointiert auf den Punkt gebracht: "Nirgends brennen wir genauer."
Am 50. Todestag, Donnerstag, 6. Juli, in der Sendung "Der Vormittag“ auf BR-KLASSIK ist die erste Stunde von 9.05 bis 10.00 Uhr komplett Otto Klemperer gewidmet.
Dirigent Otto Klemperer und seine Tochter, um 1930 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Otto Klemperer, 1885 im schlesischen Breslau geboren, studiert in Frankfurt und Berlin Klavier und bei Hans Pfitzner auch Komposition und Orchesterleitung. Folgenreich für sein ganzes Musikerleben wird 1905 Klemperers Begegnung mit Gustav Mahler, dem er assistiert und der dem überglücklichen Jungtalent seine erste Kapellmeister-Stelle am Deutschen Landestheater in Prag verschafft. Weitere Positionen an kleineren und großen deutschen Opernhäusern in Hamburg, Köln und Wiesbaden folgen. Schon als Kölner Generalmusikdirektor zeigt sich der junge Klemperer innovationsfreudig, hebt spätromantische Opern wie Erich Wolfgang Korngolds "Die tote Stadt", Franz Schrekers "Irrelohe" oder Alexander von Zemlinskys "Der Zwerg" aus der Taufe. Aber legendär wird dann Klemperers gut dreijährige Ära an der Berliner Krolloper, jenem multifunktional genutzten Ballhaus, das der Unternehmer Joseph Kroll in der Nähe des Brandenburger Tores erbaut und 1844 als Vergnügungsstätte glamourös eröffnet hatte.
Otto Klemperer 1973 in Köln | Bildquelle: picture-alliance/dpa Das Haus erlebt wechselhafte Zeiten, als zweite Spielstätte der Staatsoper Unter den Linden taugt es nicht lange. Der Neustart der Krolloper erfolgt 1927 mit der Berufung Otto Klemperers als Leiter des nunmehr eigenständigen Hauses – sein Amtsantritt gleicht einem Paukenschlag. Nicht nur, dass Klemperer dort sein Engagement fürs zeitgenössische Musiktheater verstärkt: An der Krolloper realisiert er zahlreiche Ur- und Erstaufführungen von Bühnenwerken Arnold Schönbergs, Paul Hindemiths, Igor Strawinskys, Ernst Kreneks, Kurt Weills oder Leoš Janáčeks in maßstabsetzenden Produktionen. Denn auch die Opernszene entrümpelt Klemperer mit gleichgesinnten Regisseuren wie Jürgen Fehling oder Gustav Gründgens und innovativen Bühnenbildnern wie Caspar Neher und Ewald Dülberg oder bildenden Künstlern wie Oskar Schlemmer, László Moholy-Nagy und Giorgio de Chirico. Expressionismus und neue Sachlichkeit beherrschen die Szene, die Krolloper wird zum Labor für alles Neue, Unerprobte. Bahnbrechende Opern-Aufführungen auch des traditionellen Repertoires von Richard Wagner bis Jacques Offenbach gelangen Klemperer und seinem Team damals, die noch für Walter Felsensteins Realistisches Musiktheater an der Komischen Oper Modell gestanden haben.
Eine so neuartige, radikal avantgardistische Opernnästhetik war der reaktionären Kulturpolitik natürlich ein Dorn im Auge. Rechte Parteien forderten, diesen "Kulturbolschewismus" an der Oper zu beenden. Mit Mozarts "Hochzeit des Figaro" fand am 3. Juli 1931 die letzte Aufführung an der Krolloper statt, anschließend schloss der preußische Staat das Haus – angeblich aus ökonomischen Gründen. In einem denkwürdigen Radio-Interview kommentierte Klemperer diesen skandalösen Vorgang: "Ich tat alles nur Menschenmöglichste, um die Schließung der Krolloper zu verhindern. Denn ich hing an dieser wie an einem Lebensplan. Ich ließ mich so weit hinreißen, dass ich einen Prozess gegen die preußische Regierung anstrengte. Es kam zu keiner Vereinbarung – und ich verlor den Prozess."
Otto Klemperer, Aufnahme von 1933 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Das Nachspiel zur Schließung der Krolloper war dann allerdings weit drastischer. Klemperer wurde vorübergehend an die Berliner Lindenoper übernommen, allerdings nur für Einstudierungen und Übernahmen. Schließlich kam es mit Wagners "Tannhäuser" am 13. Februar 1933 zur letzten Saalschlacht für Klemperer: "Hitler war schon im Amt, zwei Wochen vorher erhielt ich die Goethe-Medaille – und acht Wochen später wurde ich aus Deutschland vertrieben als Schädling. Hitler und Genossen waren in der Aufführung des 'Tannhäuser'. Vor dem dritten Akt kam es zu namenlosen Demonstrationen: Meine Freunde klatschten, meine Widersacher pfiffen und lärmten, das dauerte ungefähr eine Viertelstunde. Ich blieb ruhig am Pult sitzen. Aber am 4. April 1933, als ich die Schweizer Grenze passiert hatte und weit weg von Deutschland in Zürich war, da war mir zumute wie den Juden, die das Rote Meer heil durchschritten hatten." Von den Nazis war Klemperer, der aus einer jüdischen Familie stammte, durch einen Eintrag im antisemitischen Pamphlet "Lexikon der Juden in der Musik" diffamiert worden: "Seine Hauptaufgabe sah Klemperer in der bewussten Entstellung deutscher Meisterwerke."
Otto Klemperer | Bildquelle: picture-alliance/dpa Klemperer emigriert wie so viele andere vertriebene Künstler in die USA, ohne dort wirklich Fuß zu fassen. Noch 1933 wird er Chef des Los Angeles Philharmonic Orchestra und nimmt dort Kompositionsunterricht bei Schönberg. Eine Gehirntumor-Operation 1939 erzwingt eine lange Auftrittspause und hat Lähmungen zur Folge. 1946 kehrt Klemperer nach Europa zurück und arbeitet in Budapest, Berlin und London. Eine für Klemperers Musikverständnis ganz typische Anekdote stammt aus seiner Zeit als Direktor der Budapester Oper. Als er 1948 Wagners "Lohengrin" dirigierte und das Publikum durch tosenden Applaus ein Dacapo der Gralserzählung des überragenden ungarischen Tenors József Simándy erzwingen wollte, rief er "Frechheit!" und verließ den Orchestergraben. Erst "Otto, Otto!"-Rufe brachten den erzürnten Maestro dazu, ans Pult zurückzukehren und die Oper zu Ende zu bringen.
Als Otto Klemperer am 6. Juli 1973 mit 88 Jahren in seiner Wahlheimat Zürich stirbt, ist er weltberühmt. Hat viele Intellektuelle seiner Zeit inspiriert und beeinflusst wie Theodor W. Adorno, Hans Mayer, Albert Einstein oder Walter Benjamin, aber auch Multitalente wie Bertolt Brecht und Jean Cocteau. Und hat sogar Eingang gefunden in Thomas Manns visionären Roman "Doktor Faustus", in dem Klemperer die fiktive Uraufführung von Adrian Leverkühns dämonischem Oratorium "Apocalipsis cum figuris" leitet – Klemperers selbstironischer Kommentar dazu: "Ein sehr gutes Werk, ich bin drin!"
Otto Klemperer bei einer Probe mit dem Philharmonia Orchestra, 1961 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Mit dem Londoner Philharmonia Orchestra, das ihn 1959 zum Chefdirigenten auf Lebenszeit ernennt, spielt Klemperer den Großteil seiner riesigen Diskografie ein. Viel Bach schon damals, natürlich noch nicht historisch informiert, in breiten Tempi, aber ohne großes Pathos. Dafür steht ihm bei seinen Einspielungen der Matthäus-Passion und der h-Moll-Messe die Sängerelite seiner Zeit zur Verfügung – alle wollen mit Klemperer arbeiten: Elisabeth Schwarzkopf, Janet Baker, Helen Watts, Nicolai Gedda, Peter Pears, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Franz Crass oder Walter Berry. Und Gustav Mahlers Symphonik – auch er ein Zukunftsmusiker – bleibt für Klemperer seit seiner Jugend und der persönlichen Bekanntschaft mit Mahler unverzichtbar. Klemperers überwältigende Einspielung von Mahlers "Lied von der Erde" mit Mezzo-Königin Christa Ludwig und Tenor-Star Fritz Wunderlich, produziert Mitte der 1960er-Jahre in London, hat längst Kultstatus – eine Aufnahme für die Ewigkeit.
Kommentare (3)
Donnerstag, 06.Juli, 14:06 Uhr
H. Marschall
50. Todestag Otto Klemperer
Dass die Aufnahme der 2. Mahler-Sinfonie mit Heather Harper und Janet Baker (live-recording Herkulessaal 29.1.1965) v. Wolfgang Proß nicht erwähnt wird, ist sehr bedauerlich. Sie gehört meiner Meinung nach zu den ergreifendsten und überwältigsten Aufnahmen dieses Werks. EMI Classics 1998
Donnerstag, 06.Juli, 12:03 Uhr
Georg Fries
Klemperer
Das ist eine schöne Sendung, zu Klemperers Gedenktag. Und bis heute, 50 Jahre nach seinem Tod, finde ich immer wieder Menschen, die in den Aufnahmen etwas finden, das überhaupt nicht veraltet.
Mittwoch, 05.Juli, 22:06 Uhr
Wolfgang Proß
Zum 50. Todestag des Dirigenten Otto Klemperer
Ein kleiner Hinweis: Otto Klemperer hatte zum Symphonie-Orchester des BR ein besonders freundschaftliches Verhältnis. Seine Plattenfirma EMI hat in der Reihe The Klemperer Legacy einige Live-Dokumente seiner Zusammenarbeit mit dem Orchester auch offiziell zugänglich gemacht: Bruckner, Vierte Symphonie (Aufnahme: 1. April 1966); Mendelssohn, Dritte Symphonie – "Schottische" (Aufnahme: 23. Mai 1969) und Schubert, Achte Symphonie – "Unvollendete" (Aufnahme: 1. April 1966); Beethoven, Vierte und Fünfte Symphonie (Aufnahme: 30. Mai 1969).