Vor 200 Jahren wurde Beethovens 9. Symphonie uraufgeführt. Für die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv ist das Werk vor allem ein Mahnmal für Brüderlichkeit und Frieden. Sie verbindet damit zwei sehr persönliche Erinnerungen.
Bildquelle: Guido Calamosca
Während der Vorbereitung auf meine Premiere bei den Bayreuther Festspielen 2021 studierte ich die Texte von Richard Wagner. Dabei stieß ich auf einen Artikel aus seiner Zeit als königlich-sächsischer Hofkapellmeister. Wagner beschreibt darin, welche Vision er für Beethovens 9. Symphonie hatte und wie er daran arbeitete, sie aufzuführen.
Es hat mich zutiefst beeindruckt, in Wagners Erfahrungswelt als Dirigent und Visionär einzutauchen und zu sehen, welch allumfassende historische Rolle er bei der Rezeption dieses Werkes gespielt hat. Heutzutage ist es für uns Menschen des 21. Jahrhunderts kaum noch vorstellbar, mit welchen Schwierigkeiten Wagner als Dirigent konfrontiert war, als er Beethovens 9. Symphonie in das Konzertrepertoire aufnahm.
Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts ist es kaum noch vorstellbar, mit welchen Schwierigkeiten Wagner als Dirigent konfrontiert war.
Wagner hörte die Sinfonie in Paris bei einem Konzert der Musikakademie, genau zu der Zeit, als er in einer tiefen existenziellen und persönlichen Krise steckte. Von der Aufführung des Studentenorchesters war er elektrisiert.
Aber sein Vorhaben, Beethovens 9. Symphonie in Dresden aufzuführen, stieß auf großen Widerstand. Wagner beschrieb das so: "Die Aufführung brachte mir sonderbare Kämpfe, und für meine ganze weitere Entwicklung sehr einflussreiche Erfahrungen ein." Es ist bekannt, dass der Orchestervorstand die Direktion darum bat, die Aufführung abzusagen, weil "dies Werk in Dresden so gut wie unbekannt war" und "das Publikum vom Besuch des Konzertes abhalten würde." Denn einige Jahre zuvor sei die bereits bei einem Armenkonzert aufgeführt worden „und mit aufrichtiger Zustimmung des Dirigenten vollkommen durchgefallen." Es ist unglaublich, wie sich Richard Wagner letztendlich mit seinem Plan durchsetzte, obwohl Musiker, die Leitung und die Kritiker gegen ihn waren.
Dreißig Jahre später würde Wagner seine eigenen Festspiele mit seinem revolutionären Werk "Der Ring des Nibelungen" einweihen, in dem er analysiert, zu welchen weltweiten Katastrophen es führen kann, wenn die Weltmacht nur von denen erlangt werden kann, die die Liebe verfluchten. Bereits in Dresden erkannte und visualisierte der Komponist die geniale und tiefgründige Weltanschauung Beethovens und sah in dessen 9. Symphonie die Quintessenz einer Friedensidee, die auf Empathie und brüderlicher Liebe beruht.
Diese Botschaft wollte Wagner den Menschen offenbaren und der Welt dieses Werk näherbringen. Er war so von der Idee der Dresdner Aufführung besessen, dass er ein Programm auf Grundlage von Goethes "Faust" dazu schrieb und schon Wochen vor dem Konzert in Zeitungen veröffentlichte. Für die Aufführung engagierte er 300 Choristen aus allen Dresdner Chören. Außerdem ließ er eine spezielle Bühne bauen, sodass der riesige Chor das Orchester in Halbkreisen umfassen konnte, mit ihm als Dirigenten in der Mitte.
Wien, 7. Mai 1824: Ludwig van Beethoven dirigiert vollständig ertaubt seine Neunte Symphonie. Den rauschenden Applaus, der sein Meisterwerk begrüßt, bekommt er aufgrund seiner Erkrankung nicht mit. Lesen und hören Sie hier die Geschichte.
Dirigentin Oksana Lyniv ist beeindruckt, mit wie viel Engagement sich Richard Wagner dafür einsetzte, Beethovens Neunte in Dresden aufzuführen. | Bildquelle: Ed Choo
Schließlich war Wagners Aufführung der 9. Symphonie bei einem Wohltätigkeitskonzert zur Unterstützung von Witwen und Waisen tatsächlich ein enormer Erfolg. Kritiker und Publikum berichteten von nie zuvor erlebten Eindrücken bei einem sinfonischen Konzert. Später wurde es zu einer Dresdner Tradition, die Neunte jährlich aufzuführen.
Für Wagner selbst wurde Beethovens 9. Symphonie auch zu einem Schicksalswerk, das er in besonderen Momenten seines Lebens aufführte. So dirigierte er die Neunte, als der Grundstein für das Festspielhaus gelegt wurde. Seitdem ist diese Sinfonie, im Gegensatz zu den Werken anderer Komponisten - außer Wagner natürlich- , in den traditionellen Kanon der Bayreuther Festspiele aufgenommen worden. Durch diese Geschichte habe ich noch einmal deutlich begriffen, welche Verantwortung für die Musikvermittlung der Dirigentenberuf beinhaltet und dass man bereit sein muss, Risiken einzugehen.
Beethovens 9. Symphonie erinnert mich aber auch an ein Ereignis im Sommer 2022, als ich mit dem Jugendsinfonieorchester der Ukraine wieder am Beethovenfest in Bonn teilnahm. Während unseres Besuches präsentierte uns das Beethoven-Museum einen besonderen, kürzlich entdeckten Brief Beethovens – er gilt bis heute als eines der politischsten Dokumente Beethovens. Der Komponist schreibt 1795 an seinen Freund Heinrich von Struve, der als Diplomat nach Russland verpflichtet war: "du bist also jezt in dem Kalten Lande, wo die Menscheit noch so sehr unter ihrer Würde behandelt wird, ich weiß gewiß, daß dir da manches begegnen wird, was wider deine Denkungs-Art, dein Herz, und überhaupt wider dein ganzes Gefühl ist. wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur MENSCHEN geben wird, wir werden wohl diesen Glücklichen Zeitpunkt nur an einigen Orten herannahen sehen, aber allgemein - das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch JahrHunderte vorübergehen..."
Es hat mich erschüttert, diese Worte mitten in der Kriegszeit zu lesen, zusammen mit Dutzenden von ukrainischen Jugendlichen, die wir gerade aus lebensbedrohlichen Umständen evakuiert hatten. Es war, als ob Beethoven über die jetzige Situation sprechen würde, so aktuell und nah waren seine Worte.
Es hat mich erschüttert, Beethovens Worte mitten in der Kriegszeit zu lesen.
Beethoven erkennt, dass noch Jahrhunderte vergehen werden, bis der Frieden eintritt, und er zweifelt sogar daran, ob er überhaupt überall eintreten kann. Wenn man im Licht dieses Briefs an die freudige Botschaft der Neunten denkt, wird klar: Der Komponist war nicht so idealistisch, dass er glaubte, diese Brüderlichkeit würde auf der ganzen Welt von allein entstehen. Er weist auf die Verantwortung jedes einzelnen Menschen hin, insbesondere jedes Landes, jedes politischen Systems, den Frieden im eigenen Land zu sichern und die Menschen in Würde zu behandeln.
Das Jugendsinfonieorchester der Ukraine wurde in Partnerschaft mit dem Beethovenfest Bonn gegründet. | Bildquelle: Jugendsinfonieorchester der Ukraine
Ich sehe darin unsere konkrete Verantwortung für die zukünftigen Generationen, sich nicht nur um intellektuelle Entwicklung und materiellen Wohlstand zu sorgen, sondern sich auch humanistisch zu bilden und das Mitgefühl zu stärken.
Es ist symbolisch, dass unser Jugendsinfonieorchester der Ukraine in Partnerschaft mit dem Beethovenfest Bonn gegründet wurde. Wir tragen durch unsere Mission die Botschaft des großen Komponisten weiter. Sie liegt in Brüderlichkeit und Einheit, unabhängig von Rasse, Herkunft oder Religion. Und wir müssen unermüdlich daran arbeiten, dass diese Botschaft auf der ganzen Welt Realität werden kann.
Sendung: "Allegro" am 7. Mai 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Sonntag, 05.Mai, 10:43 Uhr
Angelika Lindinger
Kommentar von Oksana Lyniv
Der oben zitierte Artikel von Oksana Lyniv zeigt, wie wichtig eine umfassende Recherche in der Vorbereitung von Aufführungen musikalischer Werke ist und welch großen Wert die Empathie dabei hat.