Sie war von Anfang an auch politisch zu verstehen: Beethovens 9. Symphonie. Seit ihrer umjubelten Uraufführung am 7. Mai 1824 in Wien erfuhr sie viele Deutungen. In durchaus unterschiedlichen politischen Systemen.
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Überwältigend: Dieser Begriff wird nicht zuletzt in Musikkritiken gerne verwendet, und zwar nahezu ausschließlich positiv. Für ein Erlebnis, dem man sich nicht entziehen könne, für eine Emotion, deren Wellen über jeden (intellektuellen?) Damm hinwegschwappen würden. Die Gewaltanwendung, die bei dem Wort unweigerlich mitschwingt, bleibt dabei in der Regel ausgeblendet.
Wenn es gleich zu Beginn persönlich werden darf: Eine solche wahrhaft überwältigende Erfahrung mit Beethovens 9. Symphonie "verdanke" ich – schon wieder ein Zögern bei der Wortwahl – Wilhelm Furtwängler und den Berliner Philharmonikern. Vielleicht haben Sie ähnliche Erfahrungen mit anderen Mitschnitten aus dem Zweiten Weltkrieg gemacht, für mich war es die Aufführung vom März 1942 aus der Alten Philharmonie Berlin, aufgenommen vom Reichsrundfunk des Nazistaates. Eines jener Bänder, die die Rote Armee dann 1945 als Kriegsbeute in die UdSSR verbracht hatte und die dann, nach einer weiteren Zeitenwende, 1990 von Gostelradio an den SFB zurückerstattet und, fein säuberlich restauriert, in einer großartig aufbereiteten, repräsentativen, historisch bedeutsamen Edition veröffentlicht wurden.
Bildquelle: dpa-Bildfunk Ich habe diese Neunte bislang nur einmal gehört, sie nur einmal ertragen können. Das ist keineswegs so egozentrisch oder pubertär gemeint, wie es vielleicht den Anschein hat. Dermaßen "feuertrunken" im wörtlichen Sinne, so ekstatisch müsse die Neunte immer enden, dachte ich weinend. Mit einem Schluss-Prestissimo, dessen geradezu irrationales Tempo als die einzig rationale, dem Inhalt angemessene Geschwindigkeit erscheint. Niemals mehr dürften Aufführungen hinter diese Intensität zurückfallen, in laue, bloß korrekte Notenausführung.
Aber es waren keine Tränen des Glücks, die ich damals vergossen habe. Eher die eines schockhaften Schmerzes – und einer lang schwelenden, plötzlich wieder ausbrechenden Trauer. Die so verzweifelt-ekstatische Hoffnung, die einen aus dem Tondokument anspringt und durchschüttelt, sie speiste sich damals, 1942, vielleicht gerade und unabdingbar aus dem Erlebnis der mörderischen Unmenschlichkeit von Diktatur und Krieg – und dem herzzerreißenden Wunsch, all das überwinden und hinter sich lassen zu können. Wenigstens in der Welt der Musik. Die überdimensionalen Hakenkreuzfahnen, die aus Bilddokumenten der Aufführung bekannt sind, waren gar nicht nötig, es reichte der Höreindruck, um sich zu sagen: Nie wieder dürfe die Neunte so, unter solchen Umständen erklingen. Allein diesen Mitschnitt zu hören ist eigentlich ungehörig, ja ein Gräuel. Als würde man die Sahne abschöpfen aus einem Kessel, in dem unten das Morden brodelt.
Die Neunte war immer politisch, so wie Beethoven immer politisch war: Das belegt schon seine wechselvolle Geschichte mit dem zuerst verehrten, dann verdammten Napoleon. Wenn der Philosoph Theodor Adorno Beethovens Symphonien als "Volksreden an die Menschheit" charakterisiert hat – ein Gedanke, der eigentlich auf Paul Bekker zurückgeht, der schon 1911 von "Reden an die Nation, Reden an die Menschheit" schrieb –, dann gilt das insbesondere für dieses, sein letztes vollendetes Werk der Gattung, in dem der Komponist die Grenzen des Instrumentalen mit Friedrich Schillers populärer Ode "An die Freude" zum Gesang hin überschreitet.
Die Schiller-Vertonung war damals schon ein 40 Jahre alter, immer wieder gescheiterter Plan. Zu Beethovens Suche nach einer passenden musikalischen Gestalt passt das, was er auf nahezu poetische Weise in einem seiner Konversationshefte niederlegte: "Wahre Kunst ist/ eigensinnig, läßt sich/ nicht in Schmeichelnde/ Formen zwängen". Nur das "Eigensinnige" einer neuen, die bisher gültigen Grenzen leugnenden, da vokal-symphonischen Werkkonzeption konnte ihm hier taugen, das "Schmeichelnde" des Liedes oder auch eines bloßen Chorwerks würde dem Text nicht gerecht – einem Text, den der Komponist noch dazu selektiv vertont und nach seinem Gutdünken umstellt. Oder, in den ästhetischen Kategorien Immanuel Kants: Das rein Schöne genügt Beethoven für diesen Stoff nicht, er muss ihn als das Erhabene umsetzen, als "das, was schlechthin groß ist", eine "Bewegung des Gemüts" erzeugt, das Gefühl von Ehrfurcht, Unermesslichkeit, ja sogar eines gewissen Schreckens hervorruft.
Eigenhändiges Titelblatt der Notenschrift mit Widmung an Friedrich Wilhelm III. von Preußen | Bildquelle: picture alliance/akg-images Dass es freilich schon zu Beethovens Zeit nicht allzu weit her war mit dem flammenden Appell, das alle Menschen Brüder würden, zeigt sich schon darin, dass Beethoven den Auftrag zu diesem Werk aus London empfangen hatte, von der Philharmonic Society: Das Gerücht von Beethovens möglicher Abwanderung nach London mobilisierte in Wien patriotische Kräfte, die in den zwei berühmten, aber mangelhaft vorbereiteten Aufführungen im Kärntnertortheater (dem Vorgängerbau der Hofoper bzw. heutigen Staatsoper) am 7. Mai 1824 sowie am 23. Mai im Großen Redoutensaal der Hofburg kulminierten. Dem Ausland überlassen wollte man Beethoven ja doch nicht. Hätte man die Uraufführung miterleben wollen? Wie hätte man die schreckliche Dissonanz aufgenommen zwischen dem himmelstürmenden, die Welt umarmenden Stück – und dem hilflos herumfuchtelnden Komponisten, der nichts mehr hörte und doch glaubte, dirigieren zu können? Und dem deshalb Kapellmeister Michael Umlauf zur Seite stehen musste?
Schon der Musikpublizist Franz Brendel (1811–1868), ab 1844/45 Nachfolger Robert Schumanns an der Spitze der "Neuen Zeitschrift für Musik", charakterisierte Beethoven als den Komponisten "der neuen Ideen von Freiheit und Gleichheit, Emancipation der Völker, Stände und Individuen"; aus seiner Neunten klänge "diese rückhaltlose, unbedingte Hingebung an die Menschheit, dieser ächte Socialismus". Der revolutionär gesinnte Richard Wagner ließ sich das nicht zweimal sagen: Seine Aufführung der Neunten 1849 in Dresden geriet zu einem Fanal am Vorabend der Revolution. Später sollte Wagner sein Konzept des Musikdramas von genau diesem Werk ideologisch herleiten und sich damit zu Beethovens Erben erklären, denn die Neunte sei "das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft". Das führte mit gewisser Logik dazu, dass auch die Grundsteinlegung des Festspielhauses 1872 mit einer Festaufführung der Neunten unter seiner Leitung einherging und das Werk zu bestimmten Jubiläen sogar im Neubau auf dem Grünen Hügel erklingen durfte. Kaum zu glauben, dass hingegen ein Dirigent wie Hans von Bülow in späten Jahren die Neunte aus Prinzip ohne Chor (!) aufführte, um damit gegen Wagners These vom "Ende der Symphonie" Stellung zu beziehen.
Als Richard Wagner die 9. Symphonie von Beethoven in Dresden aufführen wollte, musste er seine Idee gegen die Bedenken vieler Kritiker und Musiker durchsetzen. Für die Dirigentin Oksana Lyniv ist diese Episode zum Vorbild für ihren Beruf geworden. Oksana Lynivs Gedanken zu Beethovens Neunter lesen Sie hier.
Bildquelle: picture-alliance / akg-images / Erich Lessing Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte die Neunte "von ihrem subversiv-revolutionären Potential verloren" und war "zu einem bürgerlich-repräsentativen Werk geworden", wie Andreas Eichhorn feststellt, bevor die "Arbeitermusikkultur der 1920er-Jahre" dann ihre "revolutionäre Rezeptionsgeschichte" wiederbelebt und "damit an die Tradition des Vormärzes" anknüpft. Vielleicht sahen deshalb die Nazis Handlungsbedarf: Sie wollten die Neunte in aller Gründlichkeit von der "glatten Annexion des Musikers für die demokratische Heilslehre von 1789 bis zum Völkerbund" befreien. So formulierte es jedenfalls der Musikwissenschaftler und Heidegger-Schüler Heinrich Besseler (1900–1969): Er hatte sich an der Universität Heidelberg ab 1933 eifrig dem "Dritten Reich" angedient, um sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg vom Saulus zu, nun ja, einem anderen Saulus zu bekehren und in der DDR Hochschulkarriere zu machen. Kein Wunder also, dass Adorno noch während des Krieges einmal den Gedankensplitter "Hitler und die IX. Symphonie. Seid umzingelt, Millionen" niederschrieb – und dass Thomas Mann im Roman "Doktor Faustus" seine Hauptfigur, den fiktiven Komponisten Adrian Leverkühn, dessen Biografie parallelgeführt wird mit dem Sturz Deutschlands in die Nazibarbarei, angesichts der Schrecklichkeiten in seinem Umfeld den Plan fassen ließ, die Neunte "zurückzunehmen".
Unterdessen hatten freilich auch die Sowjets schon den ersten Jahrestag des Oktoberumsturzes mit dem Chorfinale begangen und den ohnehin längst populären Beethoven weiter allgemein propagiert. 1936 wurde dann auch die Ratifizierung der Stalin-Verfassung mit der Neunten besiegelt. Beethoven sei damit "offizielles Symbol der sowjetischen Kunst und der sowjetischen Staatsordnung geworden", schreibt Kerstin Holm: die staatliche Aneignung eines Komponisten, der über verschiedene Mäzene von Anfang an mit der russischen Kultur in enger Verbindung gestanden hatte.
Leonard Bernstein beim Konzert zu den Festlichkeiten nach dem Mauerfall in Berlin 1989 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Liste der politischen Nutzbarmachungen, Vereinnahmungen oder Missbräuche der Neunten ist lang – viel länger, als sie hier dargestellt werden kann. Vielen noch im Gedächtnis sind Leonard Bernsteins deutsch-deutsch besetzte Aufführungen zu Weihnachten 1989, mit denen er in Ost- und West-Berlin den Fall der Mauer feierte – und dazu Schillers "schönen Götterfunken" von der "Freude" auf die "Freiheit" umtaufte. Hätte der originale Text etwa nicht mehr zum Anlass gepasst? Damals war schon weitgehend vergessen, dass 1956 bis 1968 Beethovens Freudenthema als deutsch-deutsche Olympiahymne fungiert hatte, wobei DDR und BRD erst 1968 separat um Medaillen kämpften, um dann 1972 völlig getrennt von Tisch und Bett bzw. Hymne und Flagge anzutreten. Und dann ist da natürlich noch die Europahymne – also die Freudenmelodie, bewusst in einer reinen Instrumentalfassung, angeblich arrangiert von Herbert von Karajan und 1972 vom Europarat angenommen. Durch die Weglassung eines Gesangtextes entging man der politisch heiklen Frage, in welcher Sprache dieser gesungen werden sollte – Vorschläge in Esperanto und Latein wurden nicht angenommen. Da hatte die Neunte bereits die Schlageradaption als "A Song of Joy" durch Waldo de los Rios auf dem Buckel, ein Welthit zum Beethovenjahr 1970.
Beethovens Neunte, ein dauerhaftes Politikum also mit höchst wechselvoller Historie. Vielleicht jedoch gab es keinen "politischeren" Moment in der Geschichte des Werks als die zweite Wiener Aufführung im Großen Redoutensaal. Die Solisten und der Chor standen vor den Orchesterpodien, auf gleicher Höhe mit dem ebenfalls stehenden Publikum. Der Einsatz des Chores mit den "Freude! Freude!"-Rufen muss gewirkt haben, als stimme plötzlich die Öffentlichkeit selbst mit ein, als seien die Grenzen zwischen Ausführenden und Publikum aufgehoben: wahrlich ein transzendentaler Moment, der suggeriert, dass alle Geschwister werden könnten.
Kommentare (1)
Freitag, 10.Mai, 22:35 Uhr
Wolfi
Walter Weidringer ist besser als die Redakteure
Guter Artikel, der das übliche Niveau dieser Seite weit überragt.