Schwere Vorwürfe aus der Ukraine gegen den Chef von Italiens wichtigstem Opernhaus: Dominique Meyer mache eine russlandfreundliche "Politik", heißt es aus der Ukraine. Zur Saisoneröffnung gibt es Mussorgskys "Boris Godunow".
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Er ist sich keiner "Schuld" bewusst: Wenige Tage vor der prunkvollen Saison-Eröffnung am Tag des Heiligen Ambrosius, dem 7. Dezember, nahm Scala-Intendant Dominique Meyer zu Vorwürfen Stellung, er unterstütze mit seiner Programmplanung Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Er sei nicht bereit, sich dafür zu schämen, dass er Puschkin und Dostojewski lese, so Meyer. Und er verteidigte auch seine Entscheidung, an der Premiere von Modest Mussorgskys "Boris Godunow" in der Inszenierung des dänischen Regisseurs Kaspar Holten festzuhalten: schließlich sei die Planung dafür vor drei Jahren erfolgt, also lange vor Kriegsausbruch. Außerdem enthalte das Stück keinerlei Kritik an der Ukraine, sondern sei ein "großes Meisterwerk".
In der Oper geht es um den Aufstieg des titelgebenden Zaren um das Jahr 1600, eine Ära, die von russischen Historikern auch als "Zeit der Wirren" bezeichnet wird. "Wir machen keine Putin-Propaganda, wir machen den Unterschied deutlich zwischen Russlands gegenwärtiger politischer Situation und einem großen Meisterwerk der Kunstgeschichte", so Meyer. Damit werde das gegenwärtige Kreml-Regime keineswegs "gerechtfertigt", sondern im Gegenteil vielmehr in Frage gestellt. Der Scala-Chef verwies auf einer Pressekonferenz darauf, dass er der "Erste" war, der auf eine Klarstellung des Putin-freundlichen Dirigenten Valery Gergiev gedrängt habe: "Wir haben ihn nicht gebeten, sich gegen den russischen Präsidenten auszusprechen, denn sie kennen sich seit ihrer Kindheit. Aber wir haben um eine klare Aussage gebeten für eine friedliche Lösung in der Ukraine. Wir alle wollen Frieden und Harmonie. Gergiev konnte oder wollte nicht antworten und wir haben ihn ersetzt. Wir waren die ersten, die etwas getan haben".
Wir machen keine Putin-Propaganda, wir machen den Unterschied deutlich zwischen Russlands gegenwärtiger politischer Situation und einem großen Meisterwerk der Kunstgeschichte
Im Übrigen habe die Scala ein "großartiges Benefiz-Konzert" für die Ukraine organisiert, bei dem 400.000 Euro gespendet worden seien: "Wir haben viele andere Dinge getan, um der Ukraine zu helfen: Wir haben die Kinder der Kiewer Tanzschule aufgenommen und eine Unterkunft für ihre Eltern gefunden. Wir sind nicht mit Fahnen rausgegangen, aber wir haben unsere Arbeit gemacht, danach haben wir das erwähnte Konzert angesetzt und vor einigen Monaten unseren Saisonauftakt angekündigt. Ich werde mich immer daran erinnern, dass sie mich alle nur nach der Politik gefragt haben; ich habe nicht geantwortet und wiederhole: Die Entscheidung, die Saison mit `Boris Godunov´ zu eröffnen, wurde vor drei Jahren getroffen."
Musikdirektor der Mailänder Scala: Riccardo Chailly | Bildquelle: picture-alliance/dpa Auch inhaltlich verteidigte Meyer seine Stückauswahl: "Die Welt braucht mehr Kunst, nicht weniger. Und Mussorgsky war ein Künstler, der die Macht in Frage stellte, ihre Grausamkeit entlarvte. Deshalb ist es richtig, es jetzt zu tun." Dirigent Riccardo Chailly verglich "Godunow" mit Verdis "Macbeth", was die Kritik an den Mächtigen betrifft und erinnerte sich an seine Arbeit als Assistent von Claudio Abbado, der 1979 zuletzt an der Scala Mussorgskys Oper herausbrachte. Das sei damals sehr "innovativ" gewesen, wenngleich beim Publikum umstritten. Chailly hielt es für an der Zeit, russisches Repertoire zu machen, da er sich an der Scala bisher auf Puccini und Verdis Frühwerke konzentriert habe. "Die heutige Ankündigung ist ein starkes Signal, um der russischen Musik den richtigen künstlerischen Wert zurückzugeben. Es ist notwendig, denen, die sie haben, politische Verantwortung zuzuweisen, aber die Kunst muss unabhängig und frei bleiben", so Chailly.
Gleichwohl kam aus Kiew herbe Kritik. Der dortige Opernchef Anatoli Solowjanenko sagte dem Nachrichtenportal Ukrinform: "Italien ist das Mekka der Opernkunst, das so gefeierte Komponisten hat: Verdi, Puccini, Donizetti, Bellini, Rossini – und diese Liste lässt sich noch zehn Minuten lang fortsetzen. Und zur gleichen Zeit findet die Mailänder Scala nichts Anderes, um die Spielzeit mit Mussorgskys Boris Godunow zu eröffnen, genau im Jahr der umfassenden russischen Invasion in der Ukraine. Ich denke, dass das eine Haltung und kein Zufall ist." Solowjanenko verweist darauf, dass an der Scala bis Januar ausschließlich russisches Repertoire geboten wird: Neben "Boris Godunow" auch Tschaikowskys "Nussknacker"-Ballett. Hier werde eine "bestimmte Politik" verfolgt. Im Übrigen hätten zwei ukrainische Sänger, die eingeladen worden seien, am "Godunow" mitzuwirken, "zu ihrer Ehre" dankend abgelehnt und würden dafür von der Scala ignoriert. Es sei "schockierend", dass die Scala ihr russisches Repertoire als "Höhepunkt der Saison" bezeichne, so "Ukrinform", wo gleichzeitig Kiew mit Raketen bombardiert werde: "Die Kultur des angreifenden Landes sollte so weit wie möglich ignoriert werden, da jede Erwähnung bereits eine Förderung ist."
Opernhaus in Kiew | Bildquelle: picture-alliance/dpa/G. Thielmann Im Oktober hatten ukrainische Aktivisten eine Petition auf den Weg gebracht, um die Scala zum Umdenken zu bewegen. Inzwischen haben etwa tausend Unterstützer*innen unterschrieben. Der ukrainische Generalkonsul in Mailand, Andrjy Kartysch, hatte sich brieflich an Dominique Meyer und dessen vorgesetzte Politiker gewandt und um eine "Überprüfung" des Spielplans gebeten, um "propagandistische Elemente" zu vermeiden. Die Titelrolle im "Boris Godunow" wird der russische Bassist Ildar Abdrazakow singen, der damit zum sechsten Mal bei der prestigeträchtigen Scala-Saisoneröffnung dabei ist. Auch im kommenden Jahr soll er am 7. Dezember auf der Bühne stehen, als vierfacher Bösewicht in Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen". Ein politisches Bekenntnis erwartet Dominique Meyer von seinem Star nicht: "Wie kann man einen russischen Staatsbürger, der eine Familie in seinem Heimatland hat, auffordern, sich gegen die Regierung seines Landes zu stellen? Ich bin nicht für Hexenjagden, für die Ausgrenzung russischer Künstler."
Sendung: "Leporello" am 23. November 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (2)
Mittwoch, 23.November, 22:48 Uhr
Wolfgang
Nachtrag
"Boris Godunow" ist übrigens eine düstere Oper, die sich leichter für eine anti-russische-Propaganda einspannen ließe, wenn man es unbedingt will (wir leben allerdings in einem Zeitalter der Propagandaüberflutung von allen Seiten, weshalb ich eigentlich dankbar wäre, ein paar Stunden von Parolen und Memes verschont zu bleiben).
Zu sagen, die Oper diene implizit zur Vermittlung eines russischen Lebensgefühls und sei deshab eine subtile Propaganda (so ähnlich müssen die Ukrainer ja argumentieren), ist ungefähr genauso absurd, als würde man sagen, Shakespeares "Richard III" sei ein Propagandastück zur Verbreitung des englischen Lebensgefühls.
Wie gesagt: Mir fällt es schwer zu glauben, dass die Ukrainischen Diplomaten tatsächlich glauben, sie würden die Sympathiewerte ihres Landes mit ihren Auftritten steigern. Eine andere Agenda mag eine Rolle spielen.
Mittwoch, 23.November, 13:58 Uhr
Wolfgang
Spezielle diplomatische Schule
Vor einem halben Jahr dachte ich noch, Deutschland hätte eine besonders merkwürdigen "Diplomaten" aus der Ukraine abbekommen. Mittlerweile habe ich allerdings den Eindruck, dass allgemein in der Ukraine die Lehrgänge für die Vertreter im Ausland sehr, sehr speziell sein müssen.
Ich finde es eine tolldreise totalitäre Forderung, man solle europäische kulturelle Klassiker in einem fremden Land verbieten. Auch die dahinterstehende "Logik" scheint mir sehr nahe am Irrsinn zu sein: Wer Mussorgski genießt, wird dadurch schleichend zum russischen Parteigänger, Tschaikowsky dasselbe, obwohl dieser früher in Russland als "international" galt.
Ich habe mich durchaus schon gefragt, ob die ukrainischen Diplomaten mit ihren totalitären Dreistikeiten nicht absichtlich kontraproduktiv sind...