Sie dachten in den goldenen Zwanzigern das Musiktheater völlig neu: Komponisten wie Kurt Weill aus Dessau, Alban Berg aus Wien und Leoš Janáček aus Brünn. Ihre Werke veränderten die Opernästhetik grundlegend. Ein Überblick.
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Ein politisch engagiertes "Stück mit Musik" – 1928 wurde "Die Dreigroschenoper" in Berlin im Theater am Schifferbaum aus der Taufe gehoben. Den Text schrieb Bertolt Brecht, die Musik dazu Kurt Weill. Das dreiaktige Werk setzt sich vorwiegend aus Songs zusammen. Da treffen stilistische Eigenheiten des Jazz und der Tanzmusik auf Merkmale des Bänkelsängerliedes. Hinzu kommen ironische Seitenhiebe auf Oper und Operette. Alle Melodien sind von gesanglich ungeschulten Schauspielern zu bewältigen. Die "falschen" Töne, die im Gegensatz zu geschulten Opernsängerinnen bei Volksmusikern auftauchen, finden sich sogar in der Partitur verzeichnet. Damit schaffen auch kleinere Institutionen, eine Aufführung der "Dreigroschenoper" ohne Besetzungsprobleme zu bekommen: Sieben Musikerinnen und Musiker sind gefordert, die abwechselnd 25 Instrumente spielen. Typisch Salon-Orchesterpraxis. Knapp zwei Dutzend, nämlich 22 Gesangsnummern hat die "Dreigroschenoper". Dazwischen meldet sich ein sogenannter Ausrufer.
Das Bühnengeschehen zeitlich präzise datieren? Das ist nicht möglich. Die Handlung katapultiert uns nach London, in den Stadtteil Soho. Wo sich zwielichtige Gestalten herumtreiben: auf der einen Seite der Kopf der Londoner Bettelmafia (Peachum), der Bettler erpresst und sie so ausstattet, dass sie das Mitleid der Passanten erregen. Auf der anderen Seite ein Verbrecher (Macheath/Mackie Messer), der gute Beziehungen zu Polizeichef Brown hat.
Plakat zur Uraufführung der "Dreigroschenoper". | Bildquelle: © Sammlung Megele/Süddeutsche Zeitung Photo Es ist der historische Hintergrund, der sich auf die Handlung ausgewirkt hat. Denn im 18. Jahrhundert trieb in London eine gut organisierte Verbrecherbande ihr Unwesen. Spezialitäten: Diebstahl und Raub. Den Opfern wurde die Beute von den Räubern zum Kauf angeboten. Auch hatte die Bande wertvolle Kontakte – zur Polizei nämlich. 1725 wurde der Anführer der Ganoven, Jonathan Wild, hingerichtet. Der Vorfall begegnet uns auf der Bühne drei Jahre später wieder: beim Textdichter John Gay und Komponisten Johann Christoph Pepusch. In deren "Beggar’s Opera / Bettleroper" ist die Figur des Peachum eine Anspielung auf den Ganoven Wild. Beide haben den Vornamen Jonathan. Als Bearbeitung der rund 200 Jahre älteren "Bettleroper" gilt dann die "Dreigroschenoper".
Das Leben schreibt die besten Geschichten. Auf wahren Begebenheiten beruht nicht nur die "Dreigroschenoper", sondern auch Alban Bergs "Wozzeck". Das ist ein mindestens ebenso bedeutendes musiktheatralisches Gipfelwerk dieser faszinierenden Epoche vor rund hundert Jahren. Vergegenwärtigen wir uns den Leipziger Perückenmacher und Soldaten Johann Christian Woyzeck, einen Zeitgenossen Ludwig van Beethovens. Schicksalhaft wird für ihn sein Verhältnis zu einer verwitweten Frau, die von der Treue nicht viel hält.
Woyzeck ersticht die 46-jährige im Laufe einer Auseinandersetzung am 21.Juni 1821, um halb zehn abends, im Türeingang zu ihrer Wohnung in der Leipziger Sandgasse. Der Prozess zieht sich über drei Jahre hin, die Verteidigung zweifelt immer wieder an der Zurechnungsfähigkeit Woyzecks. Die gerichtsärztlichen Untersuchungen des beauftragten Hofrats Dr.Clarus kommen jedoch wiederholt zu dem Ergebnis, dass Woyzeck für den Mord voll verantwortlich zu machen ist. Die Gutachten werden von der medizinischen Fakultät Leipzig bestätigt. Als der Verurteilung nichts mehr im Wege steht, wird Woyzeck auf dem Leipziger Marktplatz öffentlich hingerichtet: am 27. August 1824.
Zwölf Jahre später macht Georg Büchner ein Schauspiel daraus, ein "Arme Leute"-Drama. Fragmentarisch verbreitet es sich in mehreren Ausgaben, aber vorerst wird es nicht auf die Bühne gebracht. Als es nach über 80 Jahren doch dazu kommt, macht Alban Berg eine Oper daraus. Aus Woyzeck wird Wozzeck. Auf neuartige Weise fixiert der Komponist Tonhöhen und Rhythmen in den Noten. Er beabsichtigt einen Wechsel von expressivem und volksliedhaftem Singen sowie reinem Sprechen. Expressionistischer Ansatz und Atonalität schließen sich keineswegs aus.
Alban Berg. | Bildquelle: imago/Leemage Von besonderer Dichte ist der Orchesterpart, dem als Bühnenmusik auch dramaturgische Funktion zukommt. Bei Berg macht sich ein ausgeprägter Instinkt für die Bedürfnisse des Musiktheaters bemerkbar. Was für ein erschütternder Moment: das Crescendo auf einem Ton in Alban Bergs Oper "Wozzeck". Als sollte der dafür gewählte Ton "h" einen vergeblichen Hilfeschrei signalisieren. In der Mordszene entlädt sich die aufgestaute Spannung der Eifersuchtsgeschichte. Bald darauf verliert auch Wozzeck sein Leben, als er sein Messer (die Mordwaffe) sucht und nicht findet und - ertrinkt. Ein ergreifender Trauermarsch ist der Orchesterepilog auf diesen Untergang. Der Antiheld Wozzeck wird durch die Musik posthum mit jener menschlichen Würde versehen, die er auch seiner toten Geliebten nicht nehmen konnte.
Ausschnitte aus "Die Dreigroschenoper", "Wozzeck" und "In der Sache Makropulos" am Montag, 6.Februar, ab 19:05 Uhr in der Sendung "con passione".
Am Samstag, 11. Februar, ab 19.05 Uhr strahlt BR-KLASSIK eine Aufnahme von Kurt Weills "Die Dreigroschenoper" mit dem Ensemble Modern und Max Raabe als Maceath aus.
Alban Berg identifiziert sich gerade während dieser Takte nachdrücklich mit Georg Büchner und dessen Anteilnahme am Los der gequälten Kreatur. Selbstentfremdung wird als Konsequenz sozialer Umstände gesehen. Der desolate gesellschaftliche Zustand, die Kluft zwischen Peinigern und Gepeinigten, sei primär verantwortlich für einen Mordfall wie diesen hier. So Büchner, so Berg. Ein großer Moment ist der Orchesterepilog kurz vor Schluss der Oper: Hörbar sind hier letzte Ausläufer der Romantik. Bei diesem instrumentalen Kommentar müssen viele an Richard Wagners Trauermarsch für den toten Siegfried denken: in der "Götterdämmerung". Keine Frage, auch der wilde Sound der 20er basiert im "Wozzeck" tatsächlich noch auf dem eigentlich längst verlorenen Ideal philharmonischen Wohlklangs. Ein Abgesang ist das, auf das 19. Jahrhundert.
Die Berliner Uraufführung des "Wozzeck" findet am 14.Dezember 1925 statt, in der Berliner Staatsoper Unter den Linden dirigiert Erich Kleiber. Einhelligen Zuspruch gab es nicht. Paul Zschorlich etwa lästert: "Die Musik von Alban Berg ist wahrhaft entsetzlich. Von dem in Jahrhunderten errichteten Harmoniegebäude ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Die Unsauberkeit und Verantwortungslosigkeit der Polyphonie bricht selbst den Schönbergschen Weltrekord." Anderer Meinung ist der Kollege Hans Heinz Stuckenschmidt: "Der Abend bildete nicht nur die größte Sensation dieser Saison, sondern auch ein Ereignis von Bedeutung für die Geschichte der Musikdramatik überhaupt. Das Publikum war, einigen Unentwegten zum Trotz, von dem Werk hingerissen."
Kommen wir zu einem dritten und letzten Opernbeispiel für eine aufregende Zeit. "Fensterchen in die Seele" zu öffnen – das ist die Intention des mährischen Komponisten Leos Janácek. Er stellt in seinen heute höchst beliebten Opern Nähe zur Alltagssprache her, leitet Gesang unmittelbar ab aus dem typischen Klang zwischenmenschlicher Konversation. Da haben wir einen Komponisten, der sich nicht zu schade ist, mit dem Notizblock unter die Leute zu gehen - sich umzuhören. Aufzuschreiben, wie geredet wird. Nicht was, sondern wie! Mit welchen Tonhöhen, Tonhöhenschwankungen, mit welchen Rhythmen. Um sich vom protokollierten Tonfall am heimischen Schreibtisch inspirieren zu lassen. Aus authentischer Quelle. Die Wort- und Satzbildung des Tschechischen mündet bei Janácek in ein expressionistisches Recitativo accompagnato. Differenziert psychologisch.
Wissenswertes rund um die Musik der 1920er Jahre, Edutainment-Videos zu Schlüsselwerken und Musik der Epoche finden Sie hier im BR-KLASSIK-Dossier
Szene aus einer zeitgenössischen Inszenierung der "Sache Makropulos" an der Oper Frankfurt. | Bildquelle: Barbara Aumüller Seine achte Oper hat den Titel "Die Sache Makropulos". Komponiert ab dem Jahr 1923, uraufgeführt 1926 in Brünn. Ausgangspunkt war eine Komödie, eine ursprünglich als Roman gedachte "utopistische" Fabel. Der Schriftsteller Karel Capek wurde als "literarischer Futurologe" bezeichnet. Das Milieu des Geschehens ist großstädtisch: Schauplätze der Handlung sind Kanzlei, Stadttheaterbühne und Hotelzimmer. Wir erleben tatsächlich eine Opernsängerin, eine Kollegin von Puccinis Tosca. Aber mit der Griechin Elina Makropulos alias Emilia Marty hat es eine besondere Bewandtnis: Unter einer Maske ewiger Jugend lebt sie schon seit 337 Jahren, dank eines ominösen Wundermittels. Die scheinbar junge, in Wirklichkeit alte Dame ist innerlich von Müdigkeit und Übersättigung zerfressen - eine Schönheit mit ausgebrannten Gefühlen.
Reflexionen zum Thema Sein oder Nicht-Sein bietet diese Oper. Sie dreht sich um das Voranschreiten der Zeit, den Alterungsprozess und die begrenzte Lebensdauer des Individuums. Auch für Emilia Marty, die scheinbar Unsterbliche, heißt es irgendwann: Abschied nehmen vom Dasein! Und siehe da, die Frau folgt gerne dem Befehl der Natur. Sich deren Gesetzen zu widersetzen, ist ihr inzwischen viel zu anstrengend geworden. Und wenn Emilia Marty am Ende ihren Tod akzeptiert, wird ihr bewusst, dass Sterben natürlichste Sache der Welt ist. Vom ewigen Leben zu träumen, erscheint ihr zunehmend grauenhaft. Das Orchester bittet Janácek um Seelenmalerei in Tönen, um heftig zuckende Urgewalten. Die Musik wirkt überwiegend schroff, Spaltklänge beherrschen den Satz. Am Schluss aber ist alles ekstatisch aufgeladen. Und das Publikum fühlt sich innig umarmt.
Sendung: Con Passione, Montag, 6.Februar, ab 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK.
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