El Sistema ermöglicht Kindern in Venezuela eine musikalische Ausbildung. Das krisengebeutelte Land blickt stolz auf das erfolgreiche, soziale Projekt. Nach einer Welle von #MeToo-Fällen in Venezuela äußern sich nun auch immer mehr Musikerinnen und Musiker mit dem Vorwurf, innerhalb von El Sistema sexuellen Missbrauch erfahren zu haben. BR-KLASSIK hat mit ehemaligen Mitgliedern von El Sistema gesprochen.
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"Als ich diese Sätze las, begann ich mich an viele unangenehme Dinge zu erinnern, die ich in meiner Zeit bei El Sistema erleben musste." Der Auslöser für Angie Cantero, sich Ende April auf ihrem Facebook-Profil öffentlich zu äußern, ist ein Instagram Account. Dort liest die 22-jährige Venezolanerin Zeugenaussagen von jungen Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung durch einen venezolanischen Rocksänger geworden waren. "Viele der Zeugenaussagen ähnelten den Geschichten, die mir meine Freundinnen erzählt hatten, oder Vorfällen, die ich bei El Sistema mitbekommen hatte."
Gustavo Dudamel am Pult des Simon Bolivar Symphony Orchestra | Bildquelle: © dpa
Angie Cantero spielt zehn Jahre lang Klarinette bei El Sistema in Venezuela. Das soziale Musikprojekt gilt als Vorzeigeprodukt des südamerikanischen Landes, das seit Jahren in einer tiefen wirtschaftlichen und humanitären Krise steckt. Allein im letzten Jahr haben Gewalt, Hunger, medizinischer Notstand und politische Verfolgung über 4,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben.
Trotz dieser Widrigkeiten erhalten derzeit über eine Million Kinder und Jugendliche bei El Sistema in 443 regionalen Musikzentren kostenlosen Musikunterricht. In diesen "Nucleos" lernen sie von klein auf, in großen Symphonieorchestern zu spielen, und das seit 1975. Ein paar der Ensembles sind mittlerweile weltweit renommiert, das bekannteste ist das Simon Bolivar Symphony Orchestra mit Stardirigent Gustavo Dudamel am Pult.
Nun steckt auch El Sistema in einer Krise. Eine Reihe von Missbrauchsvorwürfen rund um die Institution sind öffentlich geworden, seitdem Angie Cantero ihren Facebook-Post unter dem Hashtag #MeToo (in Venezuela: #YotecreoVzla = "Ich glaube dir, Venezuela") veröffentlicht hat. Darin schreibt sie: "El Sistema ist verseucht von Pädophilen, Päderasten und einer unzähligen Anzahl an Personen, die sexuellen Missbrauch begangen haben. Seit ich 13 war, begannen anzügliche Nachrichten bei mir auf Facebook, Instagram und in anderen sozialen Netzwerken aufzutauchen." Weil ihre Eltern sie vor solchen Personen gewarnt hatten, ist Angie Cantero nie darauf eingegangen. Glücklicherweise wurde sie nicht selbst zum Opfer.
Seit ich 13 war, begannen anzügliche Nachrichten bei mir auf Facebook, Instagram und in anderen sozialen Netzwerken aufzutauchen.
Angie Cantero: Solidarisiert sich mit den Opfern von El Sistema | Bildquelle: Privat Bei ihren damals ebenfalls minderjährigen Freundinnen beobachtete sie das allerdings anders: "Sie landeten in Beziehungen (natürlich inklusive Sex) mit diesen Typen, die viel älter waren als sie (zum Teil doppelt so alt oder älter) und langjährige Partnerinnen hatten oder sogar verheiratet waren." Damals hat Angie Cantero als Freundin nichts unternommen. Jetzt, fast zehn Jahre später, sieht sie die Dinge anders. Gegenüber BR-KLASSIK sagt sie: "Mich an all das zu erinnern war sehr schmerzhaft. Jetzt, mit 22, habe ich das Bedürfnis, meinen Unmut rauszulassen. Denn ich wusste, dass es viele andere gibt, die solche Sachen erleben mussten." In kürzester Zeit bekommt der Facebook-Post von Angie Cantero über 1000 Likes und hunderte Kommentare. Freunde, Kolleginnen und auch ihr unbekannte El Sistema-Mitglieder teilen ihre Erfahrungen dort öffentlich.
In den 46 Jahren, die es El Sistema gibt, haben viele Millionen Kinder eine Chance auf musikalische Bildung bekommen. Auf den Facebook-Post von Angie Cantero melden sich knapp hundert Ehemalige bei ihr, die selbst von sexuellen Übergriffen betroffen waren. Die meisten kommen aus größeren Ballungszentren in Venezuela, wo auch die Nucleos, also die Musikzentren, größer sind, wo es um mehr geht: mehr Chancen auf einen Aufstieg, mehr Macht, mehr Prestige. Einige der Kommentierenden sprechen davon, dass das nur die Spitze des Eisbergs sei. Wie groß das tatsächliche Ausmaß an Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand abschätzen.
Bereits 2014 berichtet der britische Musikwissenschaftler Geoff Baker in seinem Buch "El Sistema: Orchestrating Venezuela’s Youth" nach intensiver Recherche in Venezuela über hierarchische und konservative Strukturen innerhalb der Institution. Baker macht schon damals deutlich, dass diese sexuellen Missbrauch billigten oder zumindest zuließen. Auch konkrete Missbrauchsfälle erwähnt er – allerdings nur unter Nennung von Vornamen. El Sistema dementiert die Vorwürfe, die Opfer wagen sich nicht an die Öffentlichkeit, das Thema verschwindet wieder in der Schublade.
Jetzt, also sieben Jahre später, wird der Vorwurf, dass sexueller Missbrauch bei El Sistema als offenes Geheimnis galt und gilt, in den Medien wieder laut. Auch weitere Opfer wagen sich an die Öffentlichkeit. Ein erschütternder Fall taucht kurz nach Angie Canteros Facebook-Post bei Twitter und als Blog auf: Eine Musikerin beschreibt unter dem anonymen Namen "Lisa" detailliert, wie sie ab ihrem zwölften Lebensjahr jahrelang von zwei Oboenlehrern bei El Sistema sexuell missbraucht wurde. Dabei erwähnt sie auch, dass die Direktion von El Sistema von dem Vorfall gewusst haben soll. Besonders perfide: Die Lehrer hätten den Missbrauch ihr gegenüber damit begründet, sie bekäme mithilfe sexueller Lust einen volleren Klang. Einer der Oboenlehrer sei dann als Lösung des Problems einfach in eine andere Stadt versetzt worden.
Unter dem Post von Angie Cantero kommentiert auch Maria Chacón. Die Venezolanerin war von 1992-1998 Mitglied von El Sistema und schreibt lakonisch: "Anscheinend hat sich in den letzten 25 Jahren wenig geändert." Mit 18 Jahren ist Maria Chacón nach Deutschland ausgewandert, um Politikwissenschaften zu studieren. Jetzt, 23 Jahre später, hat der Facebook-Post von Angie Cantero auch bei ihr Erinnerungen ausgelöst.
Du musst ein bisschen diskret vorgehen, wir wollen keinen Skandal hier haben.
Maria Chacón war von 1992 bis 1998 Mitglied bei El Sistema | Bildquelle: Privat Als sie mit 15 Jahren im Symphonieorchester ihres Bundesstaates Oboe spielt, wird sie von ihrem Oboenlehrer sexuell belästigt. Selbst nach all den Jahren fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen – obwohl sie damals selbstbewusst reagiert: Sie beschwert sich beim Dirigenten, beharrt aber gleichzeitig darauf, weiter Unterricht zu bekommen. Ihre Oboe ist vom Institut geliehen, und Maria Chacón fürchtet, dass man ihr das Instrument wegnehmen könnte. Der Dirigent versichert ihr, mit dem Oboenlehrer zu sprechen. Die 15-Jährige wird zufällig Zeugin dieses Gesprächs zwischen Tür und Angel: "Ich stand da und habe gehört, als er kurz vor der Probe zum Lehrer gesagt hat: 'Die Maria hat sich beschwert, und wir haben schon mal darüber geredet, du musst ein bisschen diskret vorgehen, wir wollen keinen Skandal hier haben.' In dem Moment habe ich mich selbst wie eine Verräterin gefühlt, obwohl ich weiß, es war nicht meine Schuld."
Wenn Maria Chacón heute die Aussagen der vielen jungen Musikerinnen und auch Musiker in den Sozialen Netzwerken liest – denn auch immer mehr Anklagen von homosexuellen Übergriffen werden laut –, fragt sie sich, warum in einer so großen und etablierten Institution keiner da war, um die Opfer vor Übergriffen zu beschützen.
Ich bin überzeugt, dass ältere Männer dort systematisch geschützt wurden.
Die Antwort gibt sie sich selbst: "Ich bin überzeugt, dass ältere Männer dort systematisch geschützt werden. Ich habe es selbst erlebt, und ich weiß, dass alles unternommen wurde, damit das nicht ans Licht kam. Die Verursacher wussten, dass es illegal ist, aber gute Musiker sind nichts wert, wenn sie im Gefängnis sind."
Am 4. Juni – über einen Monat nach Angie Canteros Facebook-Post – veröffentlicht El Sistema auf allen Kanälen ein Statement, in dem die Institution sexuellen Missbrauch verurteilt, sich mit den Opfern und deren Familien solidarisiert und versichert, dem via Twitter und im Blog veröffentlichten Fall von "Lisa" juristisch nachzugehen. Außerdem weist die Organisation auf den Krisenkontakt des Komitees zur Prävention und Aufklärung innerhalb der Institution und auf regelmäßige Kurse zu den Themen Prävention sexueller Gewalt, Kinderrechte, Gender-Diskriminierung und anderen Themen hin. Dieses Angebot werde unter anderem durch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF begleitet, zu dessen Botschaftern El Sistema zählt.
In meinen zehn Jahren bei El Sistema habe ich kein einziges Mal Informationen dazu erhalten.
Das klingt nach einem guten ersten Schritt. Angie Cantero aber bezweifelt, dass diese Unterstützung bei den Kindern und Jugendlichen ankommt: "In meinen zehn Jahren bei El Sistema habe ich kein einziges Mal Informationen dazu erhalten. Und viele andere Leute, die lange Zeit bei El Sistema waren oder es immer noch sind, haben mir bestätigt, dass auch sie nie irgendeine Art von Kurs oder Vortrag über Belästigung oder sexuelle Gewalt bei El Sistema bekommen haben", berichtet sie im Gespräch mit BR-KLASSIK. Die Mutter eines Jugendlichen, der noch bei El Sistema spielt, bestätigt uns allerdings, dass sie bei ein paar Vorträgen dieser Art war. Eine Anfrage der Redaktion an El Sistema und UNICEF Venezuela zu diesem Thema bleibt bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unbeantwortet.
In der Probe statt auf der Straße: El Sistema galt lange Zeit als sozial-integratives Vorzeigeprojekt | Bildquelle: © Rebecca Friedman
Warum hat El Sistema 2014 die in Geoff Bakers Buch veröffentlichten Berichte über Missbrauchsfälle abgeschmettert, anstatt die Fälle zu untersuchen? Die Politikwissenschaftlerin und ehemalige Musikerin von El Sistema Maria Chacón vermutet, dass es zum einen an der #MeToo-Bewegung liegt, die damals gefehlt hat und heute Rückenwind gibt. Zum anderen weiß sie um das Prestige des Musikprojekts für Venezuela als Aushängeschild mit internationaler Wirkung:
"El Sistema war viel zu wertvoll für das Land, um etwas zu riskieren. Es war eines der wenigen guten Dinge, die es in der andauernden Krise noch in Venezuela gab. Schließlich hat das Programm es geschafft, Kinder und Jugendliche aus allen Schichten in der Musik zu vereinen. Bei mir im Orchester waren viele, die sonst vielleicht auf der Straße und in der Kriminalität gelandet wären.“
Eine weitere Musikerin findet gegenüber BR-KLASSIK deutliche Worte für ihren Unmut über das Vorgehen von El Sistema. Sie möchte anonym bleiben. "Der größte Fehler war, dass die Organisation vor sieben Jahren die Vorwürfe aus dem Buch von Geoff Baker abgeschmettert hat. Dadurch wirkt die Solidarität und angebliche Handlungswilligkeit, die El Sistema nun plötzlich unter Druck der Medien signalisiert, für viele von uns wie 'fake news'."
Ein großes Problem der venezolanischen Gesellschaft ist auch der Machismo.
Wie für viele, war auch für sie der Blog von "Lisa" ein großer Schock. Sie hofft, dass der mutmaßliche Peiniger, der sich mittlerweile im Ausland befindet, so bald wie möglich zur Rechenschaft gezogen wird. Gleichzeitig ist sie froh, dass sich nun auch endlich mehr Mädchen und Frauen trauen, ihre Stimme zu erheben: "Ein großes Problem der venezolanischen Gesellschaft ist auch der Machismo, mit dem wir aufwachsen. Uns wird von klein auf beigebracht, dass im Grunde immer die Frau oder das Mädchen schuld ist." Daher kommt es ihrer Meinung nach auch, dass es so lange gedauert hat, bis sich überhaupt jemand getraut hat, öffentlich über Sexualgewalt zu sprechen.
Viele ehemalige Mitglieder von El Sistema leben inzwischen aufgrund der schlimmen Krise in Venezuela im Ausland. Sie sehen ihre musikalische Ausbildungsstätte inzwischen mit anderen Augen. "Früher war es für uns ganz normal, Gerüchte über Dinge zu hören, die bei El Sistema hinter verschlossener Tür passiert sind", berichtet ein ehemaliger Musiker von El Sistema, der jetzt in Europa lebt und ebenfalls anonym bleiben möchte. "Jetzt, seit viele von uns im Ausland sind, und wir El Sistema mit etwas Distanz betrachten, fragen wir uns: Wie kann so was normal sein? Mir ist erst im Lauf der Zeit bewusst geworden, in was für einer Parallelwelt wir dort waren und welche Routinen wir tagtäglich durchgemacht haben, ohne sie zu hinterfragen." Er ist – wie die meisten – dankbar für die musikalische Ausbildung, die er dort erhalten hat, sieht aber auch deutlich die Schattenseiten der Institution. Auch Maria Chacón bestätigt: "Wir waren dort in einer eigenen Welt. Uns wurde gesagt, wir seien was Besonderes, und natürlich fühlt man sich dann toll und merkt vielleicht nicht, dass etwas nicht stimmt."
Ich hoffe, dass alle, die bei El Sistema Belästigung oder Misshandlung erlebt haben, angemessen Anzeige erstatten können.
Angie Cantero hofft, dass ihr Facebook-Post einen nachhaltigen Anstoß gegeben hat. Ein erster Schritt ist ihrer Meinung nach, dass alle sehen: Sie sind nicht alleine, sie bekommen Unterstützung. Für die mutmaßlichen Täter wünscht sie sich juristische Konsequenzen: "Ich hoffe, dass alle, die bei El Sistema Belästigung oder Misshandlung erlebt haben und alle, die so eine Situation aktuell durchleben oder denen in Zukunft solche Situationen widerfahren, angemessen Anzeige erstatten können." Auch "Lisa", die via Twitter und mit ihrem Blog in die Öffentlichkeit gegangen ist, hat gegenüber BR-KLASSIK auf die neuesten Entwicklungen reagiert. Sie hofft, dass die ganze Thematik nach ihrem Fall nicht einfach wieder unter den Tisch gekehrt wird: "Es muss noch viel getan werden, damit sich wirklich was ändert und solche Dinge nicht weiter passieren. Dabei ist es wichtig, dass dieses Thema im öffentlichen Diskurs bleibt, sonst kann es sehr leicht wieder im Sand verlaufen."
Sendung: "Allegro" am 16. Juni 2021 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Die BR-KLASSIK-Autorin war 2002 als Austauschschülerin selbst Mitglied eines Orchesters von El Sistema in Venezuela und kennt daher viele Mitglieder persönlich.
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