Sechs Mal nominiert, einen Oscar gab's trotzdem nicht. Richtig schade. Hauptdarstellerin Cate Blanchett und Regisseur Todd Field hätten ihn mehr als verdient gehabt. Denn "Tár" unterläuft die gängigen Klassikfilmklischees und macht seinem Publikum das Urteil über die Hauptfigur Lydia Tár maximal schwer.
Bildquelle: © 2022 Focus Features, LLC.
Mit Filmen, die in der klassischen Musikwelt spielen, ist es ein bisschen so wie mit Gangsterfilmen. Zumindest dann, wenn sie realistisch gemeint sind. Die Gefahr von Überhöhung, von Kitsch ist notorisch. Kaum ein Film, der mit Klassik zu tun hat, entgeht ihr, auch nicht Filme, die an sich okay sind, wie "Lara" (2019) oder, schon etwas älter, "Vier Minuten" (2006). Ganz wesentlich gehört dazu der Gänsehautmoment des Konzerts oder der läuternden Performance, auf den solche Filme zusteuern wie auf den heiligen Gral.
Dass dieser kathartische Peak in "Tár" fehlt, ist nur ein Indiz dafür, dass es hier anders läuft. Dirigentin Lydia Tár stolpert über ihren eigenen Umgang mit Macht, ehe sie die Chance hat, mit den "Berlinern" (wie das Orchester im Film nur genannt wird) ihre Gesamteinspielung der Symphonien Gustav Mahlers zu vollenden. Der Gänsehautmoment, der Moment, in dem das Können dieser Frau endlich unverstellt leuchten darf, fällt aus. (Ideologischer gesinnte Leute würden sagen: Er wird gecancelt.)
Dabei wird in "Tár" natürlich auch Musik gemacht. Wir sind bei einigen Proben mit dabei. Allerdings haben diese Szenen nichts außerordentliches, dramaturgisch keine besondere Funktion. Sie sind einfach Teil des Alltags dieser Frau, ein Alltag, der genauso sehr aus Repräsentation und Strategie besteht, Zeigen, Darstellen und Steuern, Lenken, Verführen, Dominieren, gleich ob im beruflichen oder privaten Kontext.
Interessanterweise gilt dasselbe übrigens für den Skandal, der den Fall von Lydia Tár verursacht: Eine ehemalige Schülerin von ihr, mit der sie wohl ein Verhältnis hatte und deren Karriere sie danach verhindert, bringt sich um. Die Sache wird bekannt. Und Tár muss ihren Posten bei den Berlinern räumen. Natürlich könnte man auch das dramaturgisch zuspitzen. Todd Field macht das nicht. Der Regisseur behält sein Erzähltempo bei. Eine leicht surreale Szene, in der Tár ihren Nachfolger vor vollem Haus vom Podium schubst mal ausgenommen, ändert der Skandal so wenig am Rhythmus wie an der Ruhe des Films. Lydia Társ Flucht auf die Philippinen, ihr Versuch, ihre Karriere dort fortzusetzen, schließt wie nahtlos an dieses Scheitern an. Irgendwie geht es weiter. Ein dunkler, stiller Fluss.
Konzertmeisterin und Partnerin von Lydia Tár: Nina Hoss als Sharon | Bildquelle: Universal Pictures Und ein langer: Knapp drei Stunden sieht man Lydia Tár zu. Lange Szenen, kühle Farben, eine eher distanzierte Kamera. Ein Blick, der Neutralität suggeriert. Field sieht zu, er bewertet nicht. Das tun andere. Vor allem Sharon (Nina Hoss), die Partnerin von Lydia, die beiden haben sogar ein gemeinsames Kind. Die Skepsis ihrer Blicke entlarven die Machtspielchen von Lydia Tár, machen sie klein, oder lassen sie einfach nur auf menschliches Maß zusammensurren. Verhindern auf jeden Fall, dass diese Frau mythische Größe annehmen darf, was angesichts von Cate Blanchetts schneidender Grandezza gar nicht so einfach ist.
Das gilt übrigens in beide Richtungen. So wenig wie Field seine Protagonistin zur Pultgöttin hochjazzt, so wenig dämonisiert er sie. So strategisch sie auch ihren Annäherungsversuch anlegt: Wie sie die neue, junge Cellistin (Sophie Kauer) umwirbt, die ins Orchester kommt, das hat auch etwas Unbeholfenes; wie ihre lackierte Souveränität an der unwirschen Vitalität der jungen Frau zerplatzt, fast etwas Peinliches. Und man ertappt sich bei dem Gedanken: Ist Lydia Tár nicht vielleicht auch ein Opfer ihrer Machtfülle? Problematisch ist vieles, was sie tut, schließlich nur, weil sie ist, wer sie ist: Chefdirigentin, Maestro (sie besteht auf die männliche Form, natürlich).
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So weit geht Todd Field sicher nicht. Und auch das ist ein Plus dieses Films. Er dämonisiert seine Hauptfigur nicht, entschuldet sie aber auch nicht. Er lässt sie machen und hält ihr doch den Spiegel hin. In einer Szene, Tár ist inzwischen auf den Philippinen, sieht man die Dirigentin hinter einem Wasserfall lauern, versteckt und reglos, wie ein Raubtier, das sich zum Angriff bereitmacht. In einer anderen Szene begegnen wir ihr im Massagesalon, vor ihr ein Halbkreis junger Frauen mit devot gesenktem Blick und einer Nummer. Tár soll wählen. Es dauert einen Moment, bis sie versteht, welche Rolle sie in diesem "Spiel" spielt. Sie stürzt nach draußen und übergibt sich.
Und macht weiter. Auch das gehört zu dieser Frau. "Alte Krokodile überleben irgendwie" – dieser Satz, den die Dirigentin in Südostasien aufschnappt, kann man gut auf sie selbst münzen. Zäh ist sie. Eine Macherin. So sehr, dass buchstäblich nichts den Panzer durchdringt. Kein Reflexionsangebot, kein Zaunpfahl, den Todd Field ins Drehbuch geschottert hat. Cate Blanchett spielt eine Frau, die irgendwie durchkommt, aber eben auch nur: irgendwie. Wollte man in diesem Satz also eine Botschaft sehen – es wäre keine zynische, sondern eine tragische. Nicht: Alte Krokodile überleben. Sondern: Sie bleiben genau das – alte Krokodile. So ist das halt in Gangsterfilmen.
Sendung: "Allegro" am 13. März 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (12)
Donnerstag, 16.März, 16:40 Uhr
Henning von Vieregge
Tar
Eine der besten Filme, die ich je gesehen habe. In der Gesellschaft gäbe es zu wenig Raum jenseits von gut und böse. Der Film ist ein einziges Plädoyer eh für diesen Raum. Leider gilt dies manchen Kritiken und offenbar auch dem Oscar Gremium als zu weit gehend. Ich bin mir sicher, dieser Film wird sich dennoch durchsetzen
Donnerstag, 16.März, 13:16 Uhr
GSP
Tar
Wer kennt sie nicht, die kleinen und großen Machtspiele, die Ungerechtigkeiten, Rücksetzungen, bis hin zu Übergriffen .. Das wird hier am Beispiel hervorragend dramatisiert. Die Machtausübung geht von vielen Ebenen aus. Gut dass nicht überhöht wird.
Meine Schlüsselszene ist die Diskussion mit der Studentengruppe: Soweit kommt es - Bach's Werk wird als frauenfeindlich zurückgewiesen. Der Gesellschaft wird der Spiegel vorgehalten, deshalb wohl auch kein Oscar, wer will schon die Wahrheit hören... Absolut Sehenswert, auch die Dresdner Philharmonie, mit Saal und Orchester.
Donnerstag, 16.März, 01:26 Uhr
Volker Haseloff
Tar
Der Film ist ein Beweis für die erstklassige Schauspielkunst Cate Blanchetts. Leider enthält er einige überflüssige, weil thematisch relativ unwichtige Szenen. Etwas mehr Spannung bzw. Action hätte den Film interessanter gemacht.
Dienstag, 14.März, 23:15 Uhr
Julia
Tar
Enttäuschend für mich persönlich. Ich erwartete einen Film über eine weibliche Dirigentin mit viel Musik und sah einen grotesken Psychothriller mit hervorragenden Darstellern.
Für mich war die Protagonistin durchaus dämonisch, und - bis auf die Beziehug zu ihrer Tochter -meist unmenschlich, empathielos, zynisch und berechnend agierend, nahm dadurch fast psychopathische Züge an. Vielleicht habe ich etwas mehr Musik, mehr Emotionales, weniger pseudointelektuelles Gelaber (Netto mindestens eine Stunde schlechte unnötiger Dialoge) und mehr zusammenhängende und schlüssige Handlung erwartet. Der soziale Absturz wurde spannend dargestellt. Einige Szenen, z. B. eine in der die Dirigentin aus ungeklärtem Grund zusammengeschlagen wird, waren unnötig oder unschlüssig.
Das wirklich furchtbare Klischee, Frauen, die ganz oben angekommen sind, sind rücksichtslos und gestört wurde in dem Film leider bedient.
Dienstag, 14.März, 23:02 Uhr
Ablacher
Haha
So vorhersehbar, dass dieser Film eine gute "Kritik" bekommt.
Keine Höhepunkte - super; drei Stunden Langweile mit grottigen Dialogen - das ist echte Kunst
Dienstag, 14.März, 12:03 Uhr
Bärbel Bebensee
Tar
Ich finde den Artikel von Tobias Stosiek hervorragend. Für mich, als in der klassischen Musik nicht Bewanderte, war der Film eine Offenbarung. Die fast drei Stunden verfolgte ich intensiv, und freute mich über die zahllosen Wendungen, die jedes Klischeehafte verhinderten. Großartig Blanchett und Hoss in ihrem Spiel. Höchste Schauspielkunst.
Montag, 13.März, 20:54 Uhr
Isabeau
TAR
Die schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin ist hervorragend !
Nur fand ich aber den Film nicht besonders gut, mit vielen Gemeinplätzen, intellektuellem Blabla über klassische Musik ... und einen komischen Schluss. Es fehlte der Tiefgang, auch in emotionaler Hinsicht. Also sicher keine gute
Kino- Kunst.
Montag, 13.März, 18:44 Uhr
Karl Hufnagel
Dieser Film ist nur peinlich: voll von Klischées und Allgemeinplätzen, voll von grauenhaften Dialogen!
Warum BR-KLASSIK so einen Wirbel darum macht, erschließt sich mir in keiner Weise.
Montag, 13.März, 18:22 Uhr
Beate
Dieser Film ist eine öde Aneinanderreihung von Gemeinplätzen. Dem Thema "Dirigentin" hätte man sich intelligenter nähern können ...
Trotz der schauspielerischen Leistung von Cate Blanchett, kann ich den Film in keiner Weise empfehlen.
Montag, 13.März, 13:53 Uhr
franz lower
Tar
Gut so, teilweise war der Film unerträglich und strotzte nur so vor Klischees und Dialogen zum Fremdschämen.
Montag, 13.März, 12:55 Uhr
Munci
TAR
TAR ist für die US Amerikaner und " The Academy" viel zu anspruchsvoll. Dem Film aber keine einzige Auszeichnung zu geben, trotz 6 Nominierungen ist allerdings erbärmlich und hat viele Filmkunstkenner und Liebhaber entsetzt. "The academy" ist eben keine...und Filmkunst ist nicht für jeden erkennbar.
Montag, 13.März, 11:39 Uhr
paul-ludwig voelzing
tar
ein großes versäumnis in diesem film: man hat ein ganzes orchester und hätte in und mit diesem den ganzen LBGT..-kram abarbeiten können und nicht nur ein L. das ist doch viel interessanter und brächte mehr zuschauer als der mahlerische töne. ich nehme an, dass die sich stark auf das adagietto konzentrieren und weniger auf die kindertotenlieder.