Nicht zuletzt der klassische Pianist Igor Levit ist einer der großen Bewunderer des amerikanischen Jazzpianisten Fred Hersch. "Ein Fixstern für mich, menschlich und auch künstlerisch", sagt Levit. Beim Label ECM hat der 1955 geborene Hersch nun ein Soloalbum veröffentlicht: "Silent, Listening". Für BR-KLASSIK-Redakteur Roland Spiegel das Jazz-Album des Monats.
Bildquelle: ECM
"Silent, Listening” Von Pianist Fred Hersch
Töne von ganz tief Innen
Ein Lied. Man könnte fast auf Anhieb mitsingen. Es ist ein Lied ohne Worte: "Little Song", geschrieben und gespielt von Jazzpianist Fred Hersch. Bezaubernd ist dieses "kleine Lied". Es hat etwas Vertrautes, obwohl es immer wieder Wege geht, die nicht ganz naheliegen. An bestimmten Stellen überrascht und verblüfft es sogar mit unerwarteten Tonsprüngen und Brüchen.
Diese Musik zu hören, ist wie einer aus dem Moment heraus erfundenen Rede zu lauschen. Fast, als könne man dem Pianisten beim Denken zuhören. Eine Musik, die sich spontan ihren Weg zu suchen scheint, ständig offen für neue kleine Abzweigungen und unerwartete Entdeckungen. Und dies, ganz egal, ob ein melodisches Thema oder Harmonien vorher schon auf einem Notenblatt standen. Fred Hersch ist einer der herausragenden Improvisatoren des zeitgenössischen Jazz. Auf diesem Soloalbum, das 2023 im schweizerischen Lugano aufgenommen wurde, nimmt er die Zuhörenden mit in ein besonders leises, nach innen gewandtes Abenteuer.
Pochende Spannung hat ein Stück, das mit ganz sparsamen Tönen beginnt und sich nach und nach weitet. "Akrasia" heißt es. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Handeln wider besseres Wissen". Ob Fred Hersch beim Spielen dieses Stücks manche musikalischen Wege wider besseres Wissen eingeschlagen hat, weiß man nicht. Sicher ist nur: Es ist etwas ungemein Schönes dabei herausgekommen – Musik von bezwingender Natürlichkeit und packendem, organischen Fluss.
Die elf Stücke auf dem Album sind lauter Meisterwerke. Mit ganz leisen und oft innehaltenden Tönen hat Fred Hersch hier einen Gipfel erklommen. "Silent, listening": Der Albumtitel mit den durch ein Komma getrennten Wörtern sagt viel über die Musik. Einen leisen und sehr intensiv den klingenden Möglichkeiten zuhörenden Pianisten erlebt man hier.
Neben Eigenkompositionen sind auf dem Album auch einige Jazzklassiker, zum Beispiel "Softly, as in a Morning Sunrise", eine Komposition von Sigmund Romberg aus den 1920er Jahren. Die hohe Kunst, einfach nur eine Melodie zu spielen, erlebt man hier in den ersten Takten! Und dann: eine Gegenstimme dazu zu erfinden. Und dennoch alles ganz einfach klingen zu lassen.
Auch sehr bekannte Stücke erklingen bei Fred Hersch in jedem Ton verblüffend neu. Da gibt es nur eines: Still sein, zuhören – und sich dieser sensationell leisen Musik so oft wie nur möglich öffnen. Fred Hersch, solo am Flügel.
Sendung: "Leporello" am 22. April ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK