Alle gregorianischen Gesänge in einer Handy-App. Das gab es noch nie. "Neumz" heißt das Mammutprojekt, für das über 7.000 Stunden Musik aufgezeichnet wurden. Eingesungen wurden die Choräle von Nonnen in der französischen Provence. Jetzt an Pfingsten wird der dreijährige Liturgie-Zyklus mit den gregorianischen Gesängen komplett.
Bildquelle: Neumz
Notre-Dame de Fidélité in Jouques bei Aix-en-Provence: Auf einem Hügel oberhalb des Flusses Durance leben fast 50 Nonnen. Die Jüngsten sind Mitte 20, die ältesten über 80. Sie leben in ihrer hellen Abtei mit dem roten Ziegeldach inmitten von Zypressen, Obstbäumen und Lavendelfeldern. Im schlichten Empfangszimmer begrüßt Schwester Marie-Dorothée in dunklem Gewand und weißer Haube den Gast mit Gebäck und Klostersirup. Sie schaut durch ihre große Brille und blättert in einem Gesangsbuch.
Das Kloster Notre-Dame de Fidélité in Jouques bei Aix-en-Provence | Bildquelle: Abbaye de Notre-Dame de Fidélité „Wir haben Lieder, die sich wiederholen und andere, die zu einem bestimmten Tag gehören", erzählt sie. "Manchmal fällt ein Festtag so, dass wir nicht den normalen Zyklus singen und manches Stück dann erst in zwei Jahren wieder dran ist. Wir sind auch noch nicht fertig, weil wir unsere Liturgie erneuern. Denn die Mönche der Abtei von Solesmes erforschen die Gesänge und stöbern immer wieder uralte Hymnen auf, die wir integrieren.“
Man wird der Gregorianik nie überdrüssig.
Im Chor der Abteikirche sitzen die Nonnen durch ein Gitter getrennt vom Altartisch und den Besuchern. Über ihren Köpfen hängen noch die acht Mikrofone. "Bei der Messe denken wir nicht daran", erzählt Schwester Marie-Dorothée weiter. "Die Schwestern husten, machen Lärm. Man vergisst das. Nur die, die an- und ausschaltet, denkt dran. Und das bin ich!"
Benediktinerinnen der Abbaye de Notre-Dame de Fidélité in Südfrankreich | Bildquelle: Abbaye de Notre-Dame de Fidélité Die Gregorianischen Gesänge bezeichnet Schwester Marie-Dorothée als "die wahre Kirchenmusik." Sie seien die Basis. Sie passten am besten zum Gottesdienst und seien unvergleichlich schön. "Man wird ihrer nie überdrüssig", schwärmt sie. "Die Gregorianik erhöht die Seele. Es ist eine göttliche Sprache. Und wir singen Hymnen aus dem zehnten Jahrhundert, ja selbst aus dem vierten Jahrhundert. Sie berühren die Einheit der Kirche durch die Zeit. Himmel und Erde sind darin verbunden. Und wir sind ganz klein und versuchen diesen Schatz aus der Tiefe der Kirchengeschichte zu bewahren."
Dafür wurde "Neumz" ins Leben gerufen. Der Name der App geht auf die Neumen zurück. So werden die Zeichen genannt, mit denen die Melodien im neunten Jahrhundert notiert wurden. Die Idee zu "Neumz" hatte John Anderson aus den USA, dessen Tante in Jouques Nonne ist. Er studierte in Oxford Musik und sein gemeinnütziges Label Odradek Records zeichnet alles auf: 10.000 einzigartige Gesänge, 600 davon wurden noch nie zuvor aufgezeichnet. 34 Terabytes Gregorianik. Aber kann eine App die Seele berühren? Die Resonanz ist enorm, sagt Schwester Marie-Dorothée: "Wir haben Menschen, die sagen uns, es sei ihre Form des täglichen Gebets geworden. Wir sind in einer sehr lauten Welt, die Angst hat vor der Stille. Die Gregorianik führt einen zur Stille. Die Menschen brauchen etwas, was sie Gott nahe bringt. Und mit den Gesängen kann man in ein Klima des Gebets eintauchen. Oft können sie kein Latein, aber "Neumz" übersetzt die Texte. Die Gesänge sind ein Halt, ein Anker."
Die Gregorianik führt einen zur Stille.
Zwischen fünf Uhr morgens und acht Uhr abends folgt in Jouques ein Gottesdienst dem nächsten. Einige dauern nur 15 Minuten, der längste eineinhalb Stunden. "Der Heilige Benedikt wollte, dass man im Tagesverlauf, auch wenn die Gedanken abschweifen, immer wieder zu Gott geführt wird", erklärt Schwester Marie-Dorothée. "Die Messen sagen uns: Ah, Gott ist Nummer 1. Voilà!"
Handys spielen im Alltag der Nonnen kaum eine Rolle. | Bildquelle: Abbaye de Notre-Dame de Fidélité Handys haben die Nonnen nicht, also nur wenige. Die Hotel-Schwester braucht eins für die Buchungen. Die Nonne im Klosterladen nutzt einen Computer. Und Marie-Dorothée beides. Denn sie überprüft die App und schaltet sich mit den Technikern virtuell zusammen: "Wir sind modern, aber bleiben monastisch. Es ist für unsere Arbeit zum Wohle der Abtei. Sonst haben wir keine Handys, Apps oder Internet. Ganz und gar nicht!"
Die App wird weltweit genutzt. Bislang gab es 23.000 Downloads und 14.000 registrierte Nutzer - von Samoa bis in die USA, wo die meisten leben. Deutschland ist jüngst auf Platz 2 vorgerückt, mit fast 20 Prozent der Nutzer in den letzten drei Monaten. "Neumz" liefert die Partitur, den lateinischen Text und übersetzt ihn in fünf Sprachen. Die Basisvariante ist kostenlos. Einnahmen aus der App sollen auch einer Klosterfiliale in Afrika helfen. Grund genug, um stolz zu sein.
"So richtig sind wir das aber nicht", sagt Schwester Marie-Dorothée. "Manchmal hören wir uns "Neumz" an und denken: Hach! Da haben wir den Ton nicht getroffen. Ohlala, das haben sie nicht rausgeschnitten." Die Aufnahmen sind live mitgeschnitten. Es geht nicht um Perfektion. Jeder solle darin etwas für sich finden, erklärt die Nonne: "Wer eine perfektere Aufnahme will, der kann eine CD der Mönche aus Solesmes nehmen." Zwei Mal im Monat gibt ein Mönch den Nonnen Gesangsunterricht. Ihr Ziel ist es, den Gottesdienst immer schöner zu machen: "Wir machen das nicht für 'Neumz', sondern für Gott!"
Sendung: "Leporello" am 1. Juni 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK.
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