Ist Blackfacing, also das schwarz-Schminken von Weißen auf der Bühne noch zeitgemäß? Sollte ein heterosexueller Mensch einen homosexuellen spielen? Theater konfrontiert, inspiriert, unterhält, indem Menschen in Rollen schlüpfen. Immer öfter provoziert das Verletzungen. Wie sollte das Theater damit umgehen? Drei Meinungen aus der Theaterakademie August Everding.
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Das Tolle am Theater, am Spiel auf der Bühne, sei es Sprech- oder Musiktheater, ist, dass es die großen Fragen auf die Bühne holt: Menschliches, Gesellschaftliches, Politisches. Wie unter einem Brennglas analysiert das Bühnenspiel unser Dasein und im Idealfall gewinnen alle Beteiligten neue Erkenntnisse. Kein Wunder also, dass die Debatte rund um kulturelle Aneignung und Identitätsfragen die Bühnen längst erreicht hat. Immer wieder wird dort diskutiert: Welche Geschichten erzählen wir? Darf ich etwas spielerisch repräsentieren, was ich aufgrund von äußeren Merkmalen gar nicht bin? Und deshalb gar nicht verstehen kann? Und worum geht es dann eigentlich beim Schauspiel im 21. Jahrhundert?
Für diesen Beitrag wurden zwei Studierende und der Studiengangsleiter des Fachs Musiktheater/Operngesang der Bayerischen Theaterakademie August Everding befragt. Dabei geht es nicht darum, endgültige Antworten zu finden, vielmehr sollen sich unterschiedliche Perspektiven und Standpunkte begegnen. Wichtig ist dabei: Wir alle bilden Meinungen durch unsere ganz persönlichen Erfahrungen. Sie können sich verändern, so wie wir uns selbst verändern und weiterentwickeln – persönlich und als Gesellschaft. Diese Darstellung ist also nur eine Momentaufnahme. Und sie zeigt: Die Debatte ist ein Thema in den Ausbildungsstätten, zumindest in der Bayerischen Theaterakademie August Everding, wo Studierende nicht nur ihr Handwerk lernen, sondern auch die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der Umgebung, der Gesellschaft. Dort bekommen sie einen Raum, sich auszuprobieren, Standpunkte zu eruieren und Position zu beziehen.
Çağla Sahin studiert im Bachelorstudiengang Schauspiel an der Bayerischen Theaterakademie August Everding. | Bildquelle: Stella Traub Çağla Sahin studiert im Bachelorstudiengang Schauspiel an der Bayerischen Theaterakademie August Everding. Çağlas Ziel auf der Bühne, so erzählt es Çağla im Interview, sei es, eine Figur in all ihrer Fülle und Komplexität darzustellen. Mit jedem Respekt, den diese Figur verdiene. Dafür recherchiert Çağla intensiv. Liest das Stück, schaut sich die Figur genau an, was über sie gesagt wird und was die Figur über sich selbst sagt. Und dann sucht sich Çağla einen eigenen Zugang zu dieser Figur, zum Beispiel über Musik. Welche Musik würde diese Person hören? Auch passendes Schuhwerk ist für Çağla ein Anhaltspunkt, um sich in die Rolle einzufühlen. So könne man besser den Gang der Figur nachahmen.
Außerdem spricht Çağla für die Recherche mit vielen verschiedenen Menschen, die vielleicht näher an der darzustellenden Rolle dran sind als Çağla selbst. Das sei Çağla wichtig, um mit der Darstellung einer Rolle nicht in Klischees zu verfallen. Aber das sich Verwandeln, "mal nicht Ich spielen zu müssen", das empfinde Çağla als große Bereicherung. "Wir lernen in unserer Ausbildung, andere Realitäten darzustellen", sagt Çağla. "Sonst wäre die Frage, warum spielen Menschen immer nur sich selbst? Und ich glaube, das Respektvollste ist, wenn man sich zum Beispiel entscheidet, eine Person ohne Migrationshintergrund für seine Rolle zu besetzen, einen Raum zu schaffen, in dem trotzdem Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, ebenfalls mitgedacht werden, zum Casting eingeladen und auch in der Vorbereitung der Rolle mitgedacht werden."
Ehab Eissa, Student im Bachelorstudiengang Schauspiel an der Bayerischen Theaterakademie August Everding | Bildquelle: Christian Hartmann Çağlas Meinung zu diesem Thema hat sich verändert. Früher dachte Çağla wie Ehab Eissa. Ehab ist 24 Jahre alt und studiert im Masterstudiengang Musical an der Bayerischen Theaterakademie August Everding. Wenn er sich eine Figur zu eigen macht, dann suche er Anknüpfungspunkte, die mit seinen Erfahrungen oder Emotionen überlappen. Er schreibe sich auf, in welchen Punkten er die Figur von Natur aus verstehe, wann er sich hinterfragen müsse, und was ihm total fern liegt. Dann versuche er, einen Mittelweg zu finden.
Und wenn er so gar keine Erfahrung mit einer Figur teilt, dann frage er sich, ob er sie überhaupt spielen sollte: "Ich glaube, man könnte schon sagen, jeder sollte sich in alles einfühlen können und das wäre das Nonplusultra an Schauspiel. Aber die Realität sieht ja nicht so aus. Ich habe zwar auch einen migrantischen Hintergrund, werde aber nicht so gelesen und mache daher andere rassistische Erfahrungen als jemand, dem man das sofort ansieht. Und das ist dann die Frage: Wessen Geschichte erzählt man und wen sollte man diese Geschichte erzählen lassen? Es gibt genug Leute, die spielen und diese Erfahrung schon gemacht haben. Warum sollte ich, der diese Erfahrung nicht gemacht hat, diese Geschichte erzählen?"
Man könnte schon sagen, jeder sollte sich in alles einfühlen können. Aber die Realität sieht ja nicht so aus.
Balázs Kovalik hat 1993 sein Studium Regie an der Bayerischen Theaterakademie August Everding begonnen, gerade als die Akademie gegründet wurde. Mittlerweile leitet er den Masterstudiengang Musiktheater/Operngesang, gleichzeitig ist er als Regisseur aktiv. Er betont zunächst das spielerische Element auf der Theater- bzw. Opernbühne. Das "so tun als ob" stehe für ihn im Vordergrund. Denn sonst müsse man sich fragen: "Darf ich einen Mörder spielen? Darf ich nicht? Ich bin doch kein Mörder. Aber wenn ich einen Mörder spiele, dann werden die Menschen denken, dass ich ein Mörder bin."
Balázs Kovalik, Leiter des Masterstudiengangs Musiktheater/Operngesang an der Theaterakademie August Everding | Bildquelle: Christian Hartmann Mangelnde Bildung ist für Kovalik Auslöser für die Debatte rund um kulturelle Aneignung und Identität. Wenn er ein Stück inszeniere, dann frage er sich, welche Momente die Menschen heute noch ansprechen, welche Gefühle und Emotionen es auslösen würde. Er müsse also damit die Gesellschaft ein Stückweit einschätzen. Gleichzeitig könne er ein Stück aber nur so erzählen, wie er es auffasse und sei am Ende nicht komplett in der Lage zu antizipieren, wie sein Publikum auf bestimmte Geschichten reagieren wird.
Das aber treffe nicht nur auf ihn als Regisseur zu, sondern zum Beispiel auch auf die Mutter, die ihrem Kind ein Märchen vorliest. "Und das kann auch so enden, dass jemand weint, obwohl ich es nicht gemeint habe oder ich das nicht unbedingt wollte. Aber durch diesen Prozess kommen wir näher, weil wir dann beginnen, zu kommunizieren. Warum weinst du? Dann muss ich das erzählen… Und das ist Kunst. Kunst erzeugt eine Auseinandersetzung, eine Kommunikation, eine Diskussion."
Balázs Kovalik beobachtet allerdings, dass sich Kontexte, auf denen Stücke basieren bzw. auf die Regisseur:innen zurückgreifen, nicht mehr gegeben sind. Die Gesellschaft von heute sei kaum mehr fähig, Kontexte selbst herzustellen. Es fehle an einer Akzeptanz, an einer empathischen Sensibilität und an Kompetenz, Dinge miteinander in Beziehung zu setzen. Und das brauche man, um Kultur zu verstehen.
Kunst erzeugt eine Auseinandersetzung, eine Kommunikation, eine Diskussion.
Aber was, wenn es nicht mehr nur den einen Kontext gibt? Wenn sich Kontexte verändern, neue hinzukommen? Auch Çağla und Ehab formulieren Grenzen des Schauspiels. Für Çağla ist das zum Beispiel das Blackfacing. "Es ist zum einen diskriminierend, verletzend, rassistisch und nicht nötig. Es gibt genug Schwarze Schauspieler:innen, die diese Rollen spielen können." Ehab zieht die Grenze noch enger. Nach langem Überlegen sagt er: "Durch rein Äußerliches erfahren die meisten Menschen Rassismus und wenn ich jetzt den Weißen sehe, der über Rassismus singt, spielt, redet, geht für mich als zuschauende Person schon ein anderer Film im Kopf ab und deshalb ist das eine totale Grenze, finde ich. Wenn du keine Rassismus-Erfahrungen gemacht hast, kannst du dir auf der Bühne den Schuh nicht anziehen und außerhalb der Bühne ziehst du den Schuh aus. Ich glaube, die Grenze ist für mich, wenn du die Möglichkeit hättest, die Rassismus-Erfahrung an- und auszuschalten."
Es gibt genug Schwarze Schauspieler:innen, die diese Rollen spielen können.
Kern der Debatte ist, dass Menschen Darstellungen auf der Bühne als respektlos und unangemessen empfinden. Was ganz automatisch zur Frage führt: Wie bekommen wir noch mehr Vielfalt auf die Bühnen, noch mehr Perspektiven? Bestimmte Rollen einfach nicht mehr zu besetzen, kann ja nicht die Lösung sein. Der Musical-Student Ehab Eissa beobachtet, dass nur zwei von sieben Personen in seinem Jahrgang einen migrantischen Hintergrund haben. Er wünscht sich deshalb ein stärkeres Bewusstsein dafür, wen man in diesem Beruf fördert. Allerdings ist Ehab auch klar, dass bestimmte Voraussetzungen – allein für die Bewerbung für einen Studienplatz – schon im Jugendalter geschaffen werden müssen.
Das sieht Studiengangsleiter Balázs Kovalik genauso. Das Genre Musiktheater beispielsweise komme durch fehlende Bildung und fehlende Möglichkeiten bei vielen Menschen gar nicht an. Kovalik sieht dabei das Versagen allerdings nicht bei den Theatern und Bühnen, vielmehr seien strukturelle Missstände schuld: "Dass People of Color im 19. und 20. Jahrhundert weniger Gerechtigkeit erfahren haben ist sehr schlimm und eine politische Sache. Sie hatten nicht die Möglichkeit, Sänger zu werden, sondern sie hatten nicht mal die Möglichkeit, überhaupt darüber nachzudenken, eventuell Sänger oder Schauspieler zu werden." Das Problem sei heute immer noch vorhanden und dabei ginge es nicht allein um Hautfarbe, betont Kovalik. Viele Menschen, die in Armut lebten, würden nicht dazu kommen, klassische Musik zu hören. Das sei auch heutzutage innerhalb Deutschlands so. Auf der anderen Seite, so Balázs Kovalik, orientiere sich Theater auch an den Moden der Zeit. Das Publikum wolle bestimmte Menschen in bestimmten Rollen sehen und in anderen nicht. Die Gesellschaft treffe Modeentscheidungen. Doch soll nicht gerade das Theater Sehgewohnheiten herausfordern? "Absolut", antwortet Kovalik.
Sehgewohnheiten ändern, Castingverfahren ändern – das ist Schauspiel-Student:in Çağla Sahin wichtig, um mehr Vielfalt und neue Perspektiven auf die Bühne zu bringen. Çağla wünscht sich ein Casting "in dem es nicht darum geht, die eine, diverse Person mit im Cast zu haben, sondern wo es darum geht: Wer kann die Figur, die ich erschaffen möchte, für den Film oder das Theater am besten repräsentieren. Und dass es nicht mehr wichtig ist, ob die Person einen Migrationshintergrund hat, ob die Person eine Behinderung hat oder nicht. Sondern wenn es einfach nur um die Darstellung selbst geht. Aber davon sind wir noch weit entfernt."
Im Grunde sind sich die drei einig: Alle wollen möglichst unterschiedliche Perspektiven auf die Bühne bringen. Mit talentierten Darsteller:innen, die bisher nicht die Möglichkeit bekommen haben, auf die Bühne zu kommen. Ehab Eissa wünscht sich dafür in Zukunft ein respektvolles Umfeld: "Ich freue mich auf den Job, ich hab Lust auf Vieles, will Vieles machen. Ich hoffe aber auch, dass es viel Wandel gibt, dass ich in einem Theaterumfeld lande, wo es flache Hierarchien gibt, keine Diskriminierung."
Balázs Kovalik wünscht sich mehr Sensibilität für die eigene Umgebung: "Ich habe das Gefühl, dass die Menschen geblendet sind, weil sie permanent auf ihr Handy schauen, wenn wir das so bildhaft ausdrücken wollen. Natürlich bin ich nicht gegen die technische Entwicklung. Aber sie nehmen nur wahr, was da von diesem Gerät kommt und nicht das, was in der Umgebung passiert. Das finde ich schade. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen einfach wahrnehmen, wo sie leben, was um sie herum passiert. Dann würden wir auch sehen, was die Werte von den anderen Menschen sind, die neben uns leben."
Und auch Çağla Sahin wünscht sich weitere Blickwinkel – für jeden. "Wenn man Scheuklappen aufhaut und in einem Kosmos bleibt und in seiner Weltanschauung, in seinem Denken darüber, wie Theater und wie Kunst zu sein hat, dann verpasst man manchmal, dass sich die Diskurse weiterentwickeln, weil man sich selbst nicht weiterentwickelt. Und ich glaube, das ist ein bisschen passiert in den letzten Jahren."
Sendung: "Allegro" am 12. Juli 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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