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Mezzosopranistin Aigul Akhmetshina Mit "Carmen" an die New Yorker Met

Aigul Akhmetshina ist die neue Mezzo-Sensation auf den großen Opernbühnen. Jetzt ist sie als Bizets "Carmen" an der Metropolitan Opera in New York zu erleben. Im Interview spricht die Mezzosopranistin über sängerische Vorbilder – und ihre Familie in der russischen Provinz.

Aigul Akhmetshina | Bildquelle: Lera Nurgalieva

Bildquelle: Lera Nurgalieva

BR-KLASSIK: Frau Akhmetsina, im vergangenen September waren Sie an der Bayerischen Staatsoper in der Rolle der "Carmen" zu sehen. Wie hat man Sie empfangen?

Aigul Akhmetshina: Schon die erste Vorstellung war ein großer Erfolg. Ich habe das nicht erwartet. Auch nicht, dass die Menschen am Bühneneingang stehen, um ein Autogramm von mir zu bekommen. Und das bei meinem ersten Auftritt hier in München. Noch viel mehr kamen nach der zweiten Vorstellung.

BR-KLASSIK: Seit wann wissen Sie denn schon, dass Sie Sängerin werden wollten?

Aigul Akhmetshina: Soweit meine Erinnerung zurückreicht. Ich habe schon mit drei gesungen – auf einer kleinen Bühne meines Heimatorts. Die Oper habe ich erst mit 14 kennengelernt, als ich nach Ufa, die Hauptstadt meiner Republik Baschkortostan, umgezogen bin, um am College zu studieren. Ich habe immer mit Begeisterung gesungen. Und ich dachte mir wie viele Kinder: Vielleicht lande ich ja in der Popbranche. Aber meine Stimme hat irgendwie nicht zur Popmusik gepasst. Ich war dauernd am Ausprobieren, habe sehr hohe und sehr tiefe Töne produziert, und alle um mich herum haben gestaunt, denn das klang so ungewöhnlich. Mit 12 habe ich gewusst: Ich will singen, aber auch spielen, Charaktere auf die Bühne stellen. Von einer internationalen Karriere habe ich allerdings nicht geträumt! Ich dachte eher, ich könnte vielleicht mal in Moskau singen. Und ausgerechnet da war ich bisher noch nie! (lacht)

Die Mezzopranistin Aigul Akhmetshina

Aigul Akhmetshina kommt aus der Republik Baschkortostan in Russland. 2017, im Alter von 21 Jahren, hat sie an der Covent Garden Opera in London debütiert. Ihr Romeo in Vincenzo Bellinis "Capuleti e i Montecchi" im Salzburger Festspielsommer 2023 wurde als Offenbarung gefeiert. Im vergangenen September war die Mezzosopranistin an der Bayerischen Staatsoper in der Rolle zu sehen, in der sie jetzt an der New Yorker Metropolitan Opera zu erleben ist: als Bizets "Carmen".

BR-KLASSIK: Wieviel Musik war denn in Ihrer Familie präsent?

Aigul Akhmetshina: Niemand in meiner Familie hat professionell Musik gemacht. Damit konnte man in dem Dorf, aus dem ich komme, kein Geld verdienen – und auch keine Familie ernähren. Meine Eltern und Großeltern waren Arbeiter. Aber immer wenn die Familie zusammenkam, haben meine Mutter und meine Großmutter gesungen, und mein Großvater hat Akkordeon gespielt. Und alle hätten sie mit ihren Stimmen eine klassische Karriere machen können! Wenn sie sich hätten ausbilden lassen, wären wir jetzt eine Opernfamilie. Sie alle haben wunderschöne Stimmen.

BR-KLASSIK: Sie sind mit Mitte 20 schon ein internationaler Star. Ist es in Ordnung für Sie, mit welchem Tempo Sie an die Spitze geschossen sind?

Aigul Akhmetshina: Ich bin jetzt sieben Jahre professionell unterwegs. Sagen wir mal so: Bis jetzt kam alles im passenden Moment. Wenn du dich reinhängst und dann auch noch von den richtigen Menschen unterstützt wirst, dann funktioniert das. Obwohl ich schon sagen muss, dass manche Projekte schneller wahr geworden sind, als ursprünglich vorgesehen. Jeder Mensch hat seine eigene Zeit, und dann ist es nie zu spät oder zu früh... da denke ich sehr philosophisch.

BR-KLASSIK: Gibt es Stimmen, von denen Sie gelernt haben – nicht, um sie zu imitieren, sondern um was für IHRE Stimme rauszuholen?

Aigul Akhmetshina: Ich höre mir tatsächlich häufig meine Kolleginnen an – und auch Sängerinnen der sogenannten "alten Schule". Marilyn Horne liebe ich, die muss ich mir immer wieder anhören. In die Stimme von Olga Borodina habe ich mich beim ersten Hören verliebt. Und ich habe mir gesagt: So will ich auch mal singen. Gelernt habe ich auch von Teresa Berganza oder auch von der unglaublich perfekten Elina Garanca.

BR-KLASSIK: Bei Sopranen sagt man immer, nicht zu viel in kurzer Zeit. Und manche Partien am Beginn der Karriere überhaupt nicht. Und das Wichtigste sei sowieso zu schauen, in welche Richtung sich die Stimme entwickelt. Wie ist das bei Mezzosopranen? Sie singen mit Mitte 20 Rosina, Carmen, Romeo…

Aigul Akhmetshina | Bildquelle: Lera Nurgalieva Aigul Akhmetshina singt Bizets "Carmen" an der New Yorker Met. BR-KLASSIK überträgt live. | Bildquelle: Lera Nurgalieva Aigul Akhmetshina: Man sollte in jeder Stimmlage das singen, was gerade zu einem passt. Mein Fahrplan: immer wieder die hohen Belcantorollen des Mezzo-Fachs, also Romeo oder Maria Stuarda und auch Rosina. Würde ich jetzt schon zu schweren Verdi-Rollen wechseln, wäre meine Stimme in ein paar Jahren ruiniert. Die Stimme wächst mit dem Körper. Die Carmen ist sicher ein Grenzfall, aber wenn man da behutsam und differenziert mit den Lautstärken umgeht, ist das schon mal die halbe Miete. Und bei der Carmen kommt natürlich auch noch viel Spiel hinzu, da ist viel erlebtes Leben drin. Ich werde hohe Belcanto-Rollen so lange wie möglich singen, um die Stimme flexibel und frisch zu halten. Schließlich möchte ich ja eine möglichst lange Karriere haben.

Würde ich jetzt schon zu schweren Verdi-Rollen wechseln, wäre meine Stimme in ein paar Jahren ruiniert.
Mezzosopranistin Aigul Akhmetshina

BR-KLASSIK: Sie singen Carmen in München, London, Berlin und auch jetzt an der Metropolitan Opera in New York. Das sind schon mal fünf verschiedene Produktionen. Sind das auch fünf verschiedene Frauen? Oder gibt es gewisse Grundkonstellationen, die überall gleich sind?

Aigul Akhmetshina: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich glaube, Carmen ist in jeder Produktion die gleiche Frau – und trotzdem jedesmal anders. Sie ist sehr komplex. Und immer, wenn ich die Partitur aufschlage, finde ich was Neues. Was sich nie ändert: Carmen ist die ehrlichste Frau der Welt. Sie lügt nie – und so ehrlich, wie sie zu sich selber ist, ist sie auch zu allen anderen. Sie sagt immer die Wahrheit. Wenn sie was mag, dann sagt sie das, und wenn sie was hasst, dann sagt sie das auch. Ungeschminkt. Sie lebt im Moment, in der Gegenwart, sie lässt sich treiben. Sie fasziniert mich als Mensch. Ich weiß nicht, ob ich sie irgendwann mal in ihrer ganzen Komplexität verstehe. Natürlich hat jede "Carmen"-Produktion eine andere Botschaft, aber das macht nichts. Nur wenige Opern kann man auf so unterschiedliche Art und Weise interpretieren, ohne der Musik je Schaden zuzufügen.

"Carmen" live aus der Met in New York

BR-KLASSIK überträgt George Bizets Oper "Carmen" live aus der Metropolitan Opera in New York: am 27. Januar 2024 ab 18:59 Uhr. In der Titelrolle ist Aigul Akhmetshina zu erleben, die Rolle des Don José singt Piotr Beczała.

BR-KLASSIK: Carmen ist der Inbegriff der "freien" Frau. Liegt vielleicht ihre Freiheit darin, dass sie so ehrlich ist?

Aigul Akhmetshina: Ja, und nicht einmal unsere Welt, unser 21. Jahrhundert, ist reif für diese Art von Freiheit und Ehrlichkeit. Würde sie heute leben, würde man sie aus der Gesellschaft ausstoßen. Obwohl wir gern so wären wie sie. Die Freiheit ist ihre Wahrhaftigkeit. Deshalb kann sie auch keine Beziehung zu anderen eingehen. Das wäre eine Katastrophe. Sie wirkt sehr stark und sehr unabhängig, aber wir spüren, dass sie was mit sich herumschleppt – und wir wissen nicht, was es ist. Wahrscheinlich ist es ihre Vorgeschichte – aber das wissen wir nicht.

Carmen ist die ehrlichste Frau der Welt.
Aigul Akhmetshina

BR-KLASSIK: Warum muss Carmen sterben?

Aigul Akhmetshina: In den meisten Deutungen auf der Bühne provoziert sie ständig die anderen. Und ich bin überzeugt, sie provoziert Don José in einem Maß, dass er sie töten muss. Ihr Tod ist ein verkappter Selbstmord. Sie hat immer "auf der Rasierklinge" gelebt. Um Leben zu spüren muss sie sich in Extremsituationen begeben. Deshalb lebt sie auch in ständiger Gefahr. Dauernd riskiert sie ihr Leben – auch weil sie sich immer in die falschen Männer verliebt. Sie könnte ein ruhigeres Leben haben, aber sie will es nicht anders. Solche Menschen leben schneller – und sie machen ihre Erfahrungen früher als andere. Und in viel kürzerer Zeit. Carmen liebt das Leben so sehr, dass sie schier daran verbrennt. Sie braucht immer extremere Situationen, um sich zu spüren. Sie lotet unablässig ihre Grenzen aus. Ja, ihr Ende ist ein versteckter und von ihr provozierter Selbstmord.

 Das Gespräch führte Michael Atzinger für BR-KLASSIK

Sendung: George Bizets Oper "Carmen" live aus der Met in New York, am 27. Januar ab 18:59 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Montag, 29.Januar, 09:17 Uhr

Schorschmeyer

Übertragung aus der MET

Gerne höre ich mir die Übertragungen von der MET an....aber am liebsten auf BBC3, da mir dann das Gerede der deutschen Moderatoren erspart bleibt und ich die viel interessantere Originalversion mit Debra Lew Harder und Ira Siff ohne Störung anhören kann. Dieses Mal war die deutsche Moderation nicht nur störend sondern geradezu falsch. Beim Interview mit "Micaela" übersetzt Herr Atzinger irgendwas von Bauernmädchen....wovon die interviewte Sängerin im Original überhaupt nichts sagt. Und "Escamillo" macht einen kleinen Witz, wenn er in Hinblick auf seine Auftrittsarie von der berühmtesten Melodie der westlichen Zivilisation spricht...und Herr Atzinger macht daraus die berühmteste Arie der Oper.....

Sonntag, 28.Januar, 15:31 Uhr

Dagmar Hauptmann

Carmen - Cineplex live aus der MET 27.01.24

Was für ein Genuss, die fantastische Aigul Akhmetshina hören, sehen und erleben zu dürfen. Gänsehaut pur ❤️

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