Zwei Jahre war Barbara Wunderlich alt, als ihr Vater im September 1966 an den Folgen eines unglücklichen Treppensturzes starb. Er hatte sich die Schuhe nur nachlässig gebunden. Fritz Wunderlich war kurz vor seinem 36. Geburtstag am Höhepunkt seiner Karriere und sollte bald sein Debüt an der MET feiern. Seine Tochter hat in den letzten Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter den Nachlass erforscht. Ein Gespräch über Hobbys, Familienleben und Eigenheiten des Vaters.
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BR-KLASSIK: Sie haben zwar von Ihrem Vater selbst nicht mehr viel mitbekommen, weil er so früh starb. Ich weiß aber, dass Ihr Laufstall im selben Raum stand, als er mit Hubert Giesen am Klavier Robert Schumanns Liederzyklus "Dichterliebe" einstudiert hat. Bei Ihrem Vater war das ähnlich, soweit ich weiß. Auch er kommt aus einem Musikerhaushalt, richtig?
Barbara Wunderlich: Ja und Genregrenzen gab es bei uns zu Hause auch keine. Der Vater meiner Mutter war erster Flötist an der Stuttgarter Oper und Professor an der dortigen Musikhochschule. Bei meinem Vater, Fritz Wunderlich, war das ganz anders: seine Eltern waren Wandermusikanten. Eine großartige Tradition wie ich finde! Deshalb kannte mein Vater auch mit 19 Jahren schon um die 2000 Lieder und Schlager auswendig. Eine unglaubliche Repertoirekenntnis und Routine. Mit der Unterhaltungsmusik hat er schließlich auch sein Studium finanziert. Die Kapelle hieß 'Die flotten Fünf'.
BR-KLASSIK: Auch auf der aktuellen CD mit Archivaufnahmen mit dem Münchner Rundfunkorchester stehen schwere Opernarien gleichwertig neben Operettenrepertoire.
Hubert Giesen war Wunderlichs ständiger Begleiter bei Liederabenden - wie hier bei Probenzu den Salzburger Festspielen | Bildquelle: Fritz-Wunderlich-Gesellschaft Barbara Wunderlich: Seine Worte waren immer: "Es gibt nur gute oder schlechte Musik. Punkt." Er hat sich in allen Bereichen bewegt. In einem alten Interview sagt er: "In der Operette kann ich mich stimmlich richtig austoben!" Und meine Mutter hat ihn auch ein bisschen geschimpft, wenn er nach Hause kam, nach dem er Titel wie Agustín Laras „Granada“ geschmettert hatte. Da hat sie sich immer Sorgen gemacht, dass er sich für das lyrische Fach zu früh verdirbt. Aber er meinte nur: "Ach, wenn ich nicht am nächsten Tag einen Liederabend habe, dann kann ich das zwischendurch schon mal machen."
BR-KLASSIK: Wie war Ihr Vater privat zu Hause? Ihr Vater stand oft unter dem Druck, sich Partien drauf zu schaffen und er reiste oft für Konzerte und Aufnahmen. Konnte er das auch von sich abschütteln, um als Privatperson ‚heile zu bleiben‘?
Barbara Wunderlich: Ich glaube, er wäre sicherlich an den Punkt gekommen, wo er nicht mehr heile ist! Aber er war ja noch sehr jung und hatte extrem viel Energie. Und er hat es geschafft, neben den vielen vielen Auftritten - rund 140 Abende pro Jahr, die Studioaufnahmen nicht mitgerechnet - Morsen zu lernen und mikroskopiert.
Selfie im Spiegel von Fritz Wunderlich mit seiner Rolleiflex-Mittelformatkamera | Bildquelle: Fritz-Wunderlich-Gesellschaft
Vor allem aber hat er mit einer professionellen Kamera fotografiert und sich von der legendären Wiener Opernfotografin Lillian Barylli-Fayer in die Geheimnisse des Entwickelns einweihen lassen. Von ihr hat er sich auch die Chemikalien dafür besorgt. Wenn ihn Leute auf der Bühne fotografiert haben, hat er sie immer nach ihren Kameras ausgefragt.
In unserem Archiv gibt es extrem viele Fotos, nur auf den wenigsten ist er drauf! Aber er hat uns seine Sicht auf die Welt hinterlassen, mit Bildern von uns Kindern und immer wieder auch von neuen Haustieren, die er angeschleppt hat.
Wir sind gerade fertig mit der Probe, jetzt kommen wir nach Hause, ich bring 30 Leute mit.
BR-KLASSIK: Und mit den Kollegen von der Bayerischen Staatsoper, wo er ab 1960 Ensemblemitglied war? Hat er denen auch so viel Aufmerksamkeit geschenkt?
Barbara Wunderlich: Es gab Abende, da hat er meine Mutter angerufen und gesagt: 'Ja, wir sind gerade fertig mit der Probe, jetzt kommen wir nach Hause, ich bring 30 Leute mit.'
BR-KLASSIK: Wirklich 30? Nicht drei?
Barbara Wunderlich: Ja, 30. 'Mach was zum Essen!' [lacht] Und dann ist sie wie ne Verrückte losgezogen, hat eingekauft und dann rief er an und sagte: 'Ach, wir sind jetzt doch zum Franziskaner-Bräu gegangen, komm doch vorbei!' [lacht] Sie musste absolut flexibel sein, er war extrem spontan. Und das war vielleicht auch sein Problem: Er hat zu allem ja gesagt, wenn jemand was mit ihm machen wollte. Aber so viel Zeit war einfach nicht! Meine Mutter hat gesagt, es waren zehn Jahre der völligen Übermüdung - und da gibt’s noch unzählige solcher Anekdoten. Er hat aus seinen knapp 36 Jahren alles rausgeholt, was man rausholen kann. Das schaffen andere in 80 Jahren nicht!
BR-KLASSIK: Wenn es um seine Gesundheit ging, war er da genauso? Hat er dann zu sich selbst gesagt: 'Jetzt stell Dich mal nicht so an, das musst Du jetzt einfach machen', wenn er eigentlich einen Tag Pause gebraucht hätte?
Barbara Wunderlich: Mein Vater hatte immer wieder Probleme mit den Nebenhöhlen. Einmal hat er schon zwei Tage nach einer Nebenhöhlenoperation wieder Operettenaufnahmen gemacht. Bei solchen Dingen war er hart im Nehmen. Und als sie ihm die Weisheitszähne gezogen hatten, gab es Probleme mit Nachblutungen.
Fritz, was machst Du? Bist Du wahnsinnig?
Der Arzt in der Klink hatte große Sorge um ihn. Der Doktor kommt vom Mittagessen zurück und hört unten im Erdgeschoss plötzlich ein hohes C aus dem fünften Stock schrillen. Er rennt rauf und ruft: 'Fritz, was machst Du? Bist Du wahnsinnig?' Und mein Vater sagt: 'Ja, ich musste doch wissen, ob’s noch geht!'
BR-KLASSIK: Und bei all dieser Bedeutung des Berufs war wirklich noch Zeit für die Kinder, für Sie und Ihre Geschwister?
Fritz Wunderlich im Familienidyll mit Frau und Kindern. In der Mitte: Barbara Wunderlich | Bildquelle: Fritz-Wunderlich-Gesellschaft Barbara Wunderlich: Ja, es gibt Tonbandmitschnitte von uns zu Hause, die das bestätigen. Mein Vater hat sich immer auf Tonband aufgenommen, um sich selbst abzuhören und zu kontrollieren, schon in der Studienzeit hat er das so gemacht. Es sind sehr kostbare und aufschlussreiche Sequenzen erhalten. Er probt beispielsweise eine ganz schwere Stelle aus der Matthäus-Passion und dann kommt eines meiner Geschwister rein und klagt: 'Ja, mein Hämmerle-Spiel ist kaputt!' Dann bricht er ab, repariert das Spielzeug und singt ohne jeden Kommentar weiter. Die Familie war einfach ein Musikerhaushalt.
Das Arbeitszimmer von meinem Vater war kein Heiligtum, wir waren mittendrin. Es mischte sich das Leben mit der Musik.
Das Gespräch für BR-KLASSIK führte Franziska Stürz.