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Nathalie Stutzmann dirigiert in München "In mir singen 100 Stimmen"

Sie dirigiert an der Met und bald in Bayreuth: Nathalie Stutzmann hat sich von der umjubelten Sängerin zur gefragten Dirigentin gewandelt. Gerade ist sie bei den Münchner Philharmonikern. Ganz lässt sie das Singen aber nicht los.

Dirigentin und Sängerin Nathalie Stutzmann | Bildquelle: Simon Fowler

Bildquelle: Simon Fowler

Zu hundert Prozent Dirigentin

BR-KLASSIK: Nathalie Stutzmann, viele von uns kennen Sie als eine der bekanntesten Altistinnen, heute sind Sie aber vor allem als Dirigentin unterwegs. Bei großen Orchestern wie dem Los Angeles Philharmonic, den Bamberger Symphonikern als Chefdirigentin beim Kristiansand Symphony Orchestra und jetzt beim Atlanta Symphony Orchestra. Sie kennen also beide Seiten des Musizierens. Wo fühlen Sie sich denn mehr daheim? Als Sängerin oder Dirigentin?

Ich bin inzwischen zu 100 Prozent Dirigentin. Ich fühle mich nicht mehr wie eine Sängerin. Ich bin ja als Musikerin aufgewachsen: Zuerst war ich Pianistin, dann habe ich Cello gespielt und auch Fagott. Und ich habe auch schon als Teenagerin versucht, zu dirigieren, weil ich davon genauso fasziniert war wie vom Gesang. Meine Eltern waren beide Opernsänger, und ich habe sehr viele Stunden im Orchestergraben verbracht, um die Dirigenten zu beobachten. Für mich ist die Musik das, was zählt. Ich trenne also nicht zwischen verschiedenen musikalischen Tätigkeiten. Gleichzeitig ist es auch ein seltsames Gefühl, denn ich dachte, jetzt, wo ich die ganze Zeit dirigiere, würde ich das Singen wirklich vermissen. Aber ich vermisse es nicht, weil, wenn ich dirigiere – das ist schwer zu beschreiben – das ist so, als würden gleich 100 Stimmen in mir singen, als würde ich den Klang der Stimmen durch das Orchester erzeugen!  

Vorsingen, aber nicht mitsingen

BR-KLASSIK: Es gibt ja Dirigenten und Dirigentinnen, die gerne auch ein bisschen mitsingen, wenn sie dirigieren. Das ist für uns, wenn wir solche Konzerte mitschneiden, ein bisschen schwierig. Sind Sie auch so jemand?

Nathalie Stutzmann: In der Regel muss ich während des Konzertes nicht singen. Zum Glück! Natürlich ist es für mich ein großer Vorteil, dass ich während der Probe Phrasen vorsingen kann, weil das extrem viel Zeit und Worte spart. Und die Orchestermusiker sind dann auch ganz glücklich, wenn der Dirigent dabei gut singt.

BR-KLASSIK: Interessant ist ja, dass es einige Instrumentalisten gibt, die sich zum Dirigieren berufen fühlen, bei Sängerinnen und Sängern habe ich das eher selten erlebt. Ist man da mit Vorurteilen konfrontiert nach dem Motto: Die Stimme bringt es nicht mehr, jetzt möchte sie dirigieren?

Nathalie Stutzmann: Die ersten Jahre waren in dieser Hinsicht tatsächlich sehr schwierig, weil die Leute natürlich skeptisch waren – Sängerin und dann auch noch eine Frau. Das war nicht leicht, aber meine Leidenschaft war groß genug, um die ersten, sagen wir, fünf Jahre zu überleben. Ich musste immer irgendwie mehr beweisen. Aber jetzt mit Einladungen zu den größten Orchestern und Opernhäusern der Welt, Metropolitan Opera, Bayreuth, habe ich nicht mehr das Gefühl, mich beweisen zu müssen. Als ich meine Dirigierkarriere gestartet habe, war ich eigentlich auf dem absoluten Höhepunkt meiner Gesangskarriere. Deshalb konnte niemand sagen: Sie fängt mit dem Dirigieren an, weil sie keine Stimme mehr hat. Und um ehrlich zu sein, ich habe immer noch die gleiche Stimme. Seltsamerweise hält sich meine Stimme so frisch, ich weiß nicht, warum!

Beim Dirigieren ist nichts einfach, alles ist schwierig.
Nathalie Stutzmann, Sängerin und Dirigentin

BR-KLASSIK: Was ist für Sie denn die größte Herausforderung beim Dirigieren? Und was ist das größte Geschenk?

Nathalie Stutzmann | Bildquelle: Sabine Burger Mimik und Körpersprache spielen für Nathalie Stutzmann beim Dirigieren eine große Rolle. | Bildquelle: Sabine Burger Nathalie Stutzmann: Das größte Geschenk ist die Musik. Ich glaube, wenn du ein großes Orchester wie die Münchner Philharmoniker dirigierst, und es kommen die Momente, wo du wirklich mit ihnen verbunden bist und mit einem vollen Orchester wie eine Person spielst, ist es das Größte auf der Welt. Das ist für mich als Musikerin die Vollendung schlechthin. Aber beim Dirigieren ist nichts einfach, alles ist schwierig. Die Leute denken oft, es geht um die Hände, aber es gibt so viele Dinge, die man nicht erklären kann: die Macht dessen, wie du bist, deine Mimik, deine Körpersprache. Du musst alle Visionen, die du dir ausgedacht hast, vermitteln. Wenn du eine Partitur tagelang studierst, du alle Zeilen des Orchesters analysierst, dir deine Interpretation überlegst, und du so wenig Zeit hast, das mit einer Gruppe an großartigen Musikern zu teilen, die wiederum eine eigene Meinung haben, musst du so überzeugend sein, dass sie mit dir mitgehen. Denn wenn sie machen, was du willst, aber nicht mit dir mitgehen, dann sind sie nicht von dem überzeugt, was du anbietest. Dann klingt es nie magisch. Aber wenn du es schaffst, in so wenigen Tagen deine Vision rüberzubringen, dann entstehen unglaubliche Momente.

Gut zuhören ist das Wichtigste

BR-KLASSIK: Sie haben es gerade angesprochen, die Magie des Dirigierens. Jetzt sind Sie gerade zum ersten Mal bei den Münchner Philharmonikern. Da schwingt natürlich immer auch viel Psychologie mit in diesen ersten Momenten. Die ersten Sekunden entscheiden. Was tun Sie, um diese positiv zu beeinflussen?

Nathalie Stutzmann: Das ist natürlich immer ein besonderer Moment, ein neues Orchester zum ersten Mal zu treffen. Vor allem, wenn du dich so langsam daran gewöhnst, als Chefdirigentin dein eigenes Orchester zu haben. Du kennst alle beim Namen, es ist wie eine Familie. Und wenn man als Gast zu einem anderen Orchester kommt, hast du plötzlich hundert Leute vor dir – und alle schauen dich an ... Das ist nicht einfach. Für mich ist der einzige Weg, mich von der ersten Sekunde an voll und ganz auf die Musik zu fokussieren. Darauf, was wir zu tun haben. Ich fange einfach an zu dirigieren und wir machen zusammen Musik. Man muss gut zuhören, weil jedes Orchester anders ist und man muss verstehen, was für dieses bestimmte Orchester charakteristisch ist, was seine Stärken und Schwächen sind, an welchen Punkten man arbeitet und welche man lassen kann, weil sie ganz natürlich kommen.

Eine romantische Seele

BR-KLASSIK: Das Hinhören und nicht immer nur Selbstsprechen gilt also auch auf der Bühne mit einem Symphonieorchester. Jetzt bei den Münchner Philharmonikern stehen Brahms, Reger und Tschaikowsky auf dem Programm. Sind Sie eine romantische Seele?

Nathalie Stutzmann: Oh ja, auf jeden Fall. Und das ist wirklich ein schönes Programm. Es geht alles um Schicksal, die Tschaikowsky-Symphonie, Reger auch. Es ist wirklich das Kernrepertoire für mich. Ich denke, es wird ein sehr interessanter Abend.

Das Schicksal kennt den Weg

BR-KLASSIK: Wie sehen Sie Schicksal? Haben wir Menschen einen freien Willen oder sind wir sozusagen Puppen im Schicksalsspiel?

Nathalie Stutzmann: Diese Frage ist eine Frage für alle Menschen auf der Welt. Irgendwie habe ich das Gefühl, es gibt so etwas wie das Schicksal, das, egal welche Entscheidung wir treffen, uns trotzdem zu unserem Schicksal bringt. Vielleicht sehe ich es deshalb so, weil es mir hilft, das Leben zu überleben. Wenn du denkst, dass alle Entscheidungen dein Schicksal verändern, wird jede Entscheidung zur Hölle, weil es zu viel Verantwortung ist. Ich hoffe aber, dass ich irgendwann die Antwort auf Ihre Frage habe.

BR-KLASSIK: Ganz herzlichen Dank Nathalie Stutzmann für das Gespräch und ein wunderbares Konzert bei den Münchner Philharmonikern.

Nathalie Stutzmann: Es war mir ein Vergnügen. Danke!

Sendung: "Leporello" am 18. November 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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