Mit einem Konzert wird am 30. Oktober im Münchner Prinzregententheater das jüdische Neujahrsfest gefeiert. Die Moderation übernimmt Richard C. Schneider - langjähriger Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv. Im Interview spricht er über die Bedeutung des Neujahrs für die jüdische Religion, die Rolle des Kantors und die emotionale Kraft von Musik.
Bildquelle: Privatfoto von Richard C. Schneider
Richard C. Schneider
Interview über Neujahr im Judentum
BR-Klassik: Richard C. Schneider, wie feiern die Juden eigentlich das Neue Jahr?
Richard C. Schneider: Unser Neujahr ist, anders als das christliche Neujahr, nicht ein großes Fest, das man mit Pauken und Trompeten, Champagner und Feuerwerk feiert. Es ist der Beginn von zehn sehr wichtigen Tagen, in denen man Buße tun und seine Sünden bekennen soll. Und in diesen zehn Tagen hat man die Möglichkeit, eine Umkehr zu machen, um wieder zum richtigen Weg zurückzufinden. Denn am Ende dieser zehn Tage - am Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, also dem wichtigsten Feiertag des Judentums - wird das Schicksal des Menschen von Gott für das kommende Jahr besiegelt. Und es geht darum, ob man ein gutes Siegel im Buch des Lebens oder im Buch des Todes bekommt.
BR-Klassik: Und wie feiern Sie persönlich diese Tage? Tun Sie auch Buße?
Richard C. Schneider: Naja, ich müsste eigentlich jeden Tag Buße tun, wie wir alle. Aber ich bin kein richtig frommer, praktizierender Jude mehr, sondern eher ein traditioneller, und halte das dann eher so, wie auch viele Christen Weihnachten feiern: Man sitzt mit der Familie zusammen, isst und feiert. Aber ob man dann noch in die Synagoge geht, das ist die Frage. Der Großteil meiner Familie ist allerdings fromm. Ich bin da etwas legerer und freue mich vor allem über gutes Essen (lacht).
BR-Klassik: Sie moderieren das Neujahrskonzert mit dem Orchester Jakobsplatz. Es sind auch zwei Kantoren dabei. Netanel Hershtik hat mir im Interview erzählt, dass es seine Aufgabe als Kantor sei, mit dem Gesang den Weg zu Gott hin zu bahnen - also als Vermittler zu dienen.
Netanel Hershtik, Kantor der Hampton Synagoge New York | Bildquelle: © OJM
Richard C. Schneider: Vermittler würde ich nicht unbedingt sagen. Es gibt zwei verschiedene Arten von Vorbetern. Der eine ist der Kantor, das ist jemand, der wirklich wie ein Opernsänger eine richtige Gesangsausbildung hat und auch die Lieder und Traditionen alle kennt. Wobei man hinzufügen muss, dass es in den verschiedenen "Judentümern" natürlich auch verschiedene Melodien gibt. Das Judentum, das aus Osteuropa kommt, hat ganz andere synagogale Gesänge als beispielsweise das Judentum aus Marokko. Dort klingt das alles sehr viel arabischer, wohingegen der ostjüdische Synagogengesang sehr viel slawischer klingt.
Der Kantor ist jemand, der die Gebete vorsingt, und die gesamte Gemeinschaft in der Synagoge singt mit: Oft singt er eine Phrase vor, und die anderen antworten entsprechend - singen die nächste Phrase oder wiederholen die vorangegangene. Und dann gibt es noch den Führer des Gebets. Das ist jemand, der keine Kantorenausbildung gemacht hat, aber trotzdem über eine sehr schöne Stimme verfügt. Er ist sehr religiös und steht dem Gebet vor.
Diese beiden Arten von "Vorbetern" gibt es also. Aber es sind keine "Vermittler" wie im Christentum, wo ein Mensch der Vermittler für einen anderen Menschen ist. Denn im Judentum gilt der Grundsatz "Vor Gott sind wir alle gleich" - egal ob man ein ganz einfacher Mensch ist ober Oberrabbiner des Staates Israel. Niemand kann uns die Auseinandersetzung mit Gott, oder auch unsere Sünden, abnehmen.
BR-Klassik: Und die Musik - erfüllt die irgendeine Funktion, vielleicht, den Menschen zu öffnen?
Das Orchester Jakobsplatz München | Bildquelle: © Thomas Dashuber Richard C. Schneider: Das ist eigentlich wie in fast allen Religionen. Wenn ich an gregorianische Gesänge denke - oder an schöne geistliche Musik, zum Beispiel Bach: Diese Musik "macht" ja auch etwas mit mir, selbst dann, wenn ich kein Christ bin. Musik weckt natürlich Emotionen. Natürlich berührt ein Gottesdienst mit Musik stärker, als wenn man einfach die Texte trocken herunterlesen würde. Das ist wahrscheinlich in allen Religionen ähnlich. Und wenn man als Kind mit einer Musik groß wird, dann löst sie natürlich auch etwas in einem aus. Ich zum Beispiel bin im ostjüdischen Ritus groß geworden. Wenn ich in Israel in eine orientalische Synagoge gehe - mit Wurzeln aus Marokko oder dem Jemen beispielsweise -, dann bewirkt die Musik nichts in mir, obwohl die Gebete identisch sind. Wenn ich mich aber in einer Synagoge mit ostjüdischen Gesängen aufhalte, dann kommen automatisch Kindheitserinnerungen hoch.
BR-Klassik: Sie sagen, dass eine wichtige Funktion des Neujahrsfests darin besteht, sich selbst zu prüfen und zu reflektieren. Hilft einem die Musik dabei?
Richard C. Schneider: Natürlich. Die Musik ist ein unterstützendes Mittel, um emotional an den Kern des eigenen Wesens heranzukommen. Viele dieser Gesänge sind auch in Moll - mit einem traurigen Charakter. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Gebeten, die in Dur stehen - weil man ja auch hofft, dass Gott einem verzeiht.
Musik ist etwas, das unmittelbar die Sinne erreicht - immer.
BR-Klassik: Können Sie schon sagen, wie Ihre Moderation aussehen wird?
Richard C. Schneider: Ja, ich werde etwas über die Riten erzählen und darüber was "Rosch ha-Schana", also das Jüdische Neujahrsfest, tatsächlich ist. Außerdem erkläre ich die Bedeutung der einzelnen Gebete, die gesungen werden. Aber ich halte das Ganze relativ einfach, denn es ist ja doch so, dass nach wie vor in Deutschland - so wie in vielen anderen Ländern auch - die Menschen relativ wenig über das Judentum wissen. Allein die Tatsache, dass bei uns jetzt das Jahr 5.777 geschrieben wird, und das Neujahr im Judentum immer im Herbst ist, löst bei vielen Leuten schon Überraschung aus. Und da muss man halt ein bisschen etwas über den Hintergrund erzählen.
Die Fragen stellte Elgin Heuerding für BR-KLASSIK.