Jazz aus den USA, Kanada, der Mongolei, Schweiz, Südkorea und anderswo - die Top Ten der Jazzalben 2023 sind wieder eine internationale Angelegenheit, ausgesucht von unserer Jazzredaktion.
Bildquelle: picture alliance / PYMCA/Photoshot | Kamila Kicinska
Bildquelle: Jazz Detective
Erst im April 2023 wurden sie veröffentlicht: Zwei Fundstücke präsentieren den Sänger und Trompeter Chet Baker in feiner Studioqualität und auf der Höhe seines gestalterischen Könnens. Besonders geglückt ist die Session vom 10. April 1979 mit seiner "working band" bestehend aus dem Pianisten Phil Markowitz, dem Bassisten Jean-Louis Rassinfosse und dem Drummer Charles Rice. Bakers warmer Sound der späten Jahre berührt das Herz. Eine Viertelstunde zelebriert er in tiefster Konzentration das Titelstück "Blue Room", das innig und fast zeitlupenhaft daherkommt. Die tiefe, wie Seelenbalsam wirkende Ruhe kontrastiert eigentümlich zu seinem rastlosen Leben jener Jahre, als der Amerikaner Europa von Auftritt zu Auftritt, von Studio zu Studio durchstreifte, ja durchraste. Nicht so perfekt, doch gelungen auch die 10 Monate später entstandenen Aufnahmen mit holländischen Sidemen. Zev Feldman hat das Album veröffentlicht – ein Garant für ein prallvolles Booklet voller Interviews mit Zeitzeugen und Musikern.
Marcus A. Woelfle
Bildquelle: ECM Records
Sounds, die einen weit forttragen: Schon beim ersten Hören fesseln mich die Klangwelten der albanisch-schweizerischen Sängerin Elina Duni, geboren 1981. Sie singt Volksweisen, Chansons, amerikanische Klassiker und Eigenes im Jazz-Kontext mit einer international besetzten Gruppe: Mit Rob Luft an der Gitarre, Matthieu Michel am Flügelhorn und Fred Thomas am Klavier/Schlagzeug teilt sie ihre Leidenschaft für musikalisches Geschichten-Erzählen. Musik von zart-poetischer Kraft. Farbenreich, lautmalerisch, geprägt von einem großem Flow. Oft nimmt sie langsam Fahrt auf. Dunis Repertoire besitzt einen großen Radius, ihre Stimme viele Schattierungen des Ausdrucks. Sie phrasiert natürlich - singt auf Englisch, Albanisch, Französisch - und jeden Ton ihrer sanften Melodien mit großer Innigkeit. Alle Liedtexte finden sich im Booklet. "A Time to Remember": ein Album zum Innehalten, zum Staunen, zum Immer-wieder-Anhören.
Beatrix Gillmann
Bildquelle: Shuteen Erdenebaatar/ Motema Music
Ganz schwer, sich dieser warmtönenden Musik zu entziehen! Ausnehmend schöne Melodien, hervorragende Soli – und ein faszinierend organischer Zusammenklang. Die Bandleaderin, geboren 1998, stammt aus der Mongolei, lebt seit einigen Jahren in München und hat ihr Album "Rising Sun" bei einem New Yorker Label veröffentlicht. Das ist Internationalität. Die Pianistin und Leaderin Shuteen Erdenebaatar hat alle Stücke selbst komponiert und sie, wie es scheint, ihren Band-Kollegen auf den Leib geschrieben. Saxophonist und Flötist Anton Mangold macht die feinen Linien zu einem edlen Sound-Genuss, und wie der ungemein agile Kontrabassist Nils Kugelmann und der Schlagzeuger Valentin Renner das Ganze in eng verzahnter Vielfalt tragen, macht Stück für Stück immer mehr Freude. Das hohe Können der vier Bandmitglieder ist stets präsent, tritt aber nie in den Vordergrund: Im Vordergrund stehen der Gefühlausdruck und die gemeinsam genossene Schönheit musikalischer Momente. "Rising Sun" - der Albumtitel sagt es: Für Zuhörende geht bei dieser Musik die Sonne auf. Überzeugen können sie sich davon auch in diesem Konzertvideo von Shuteen Erdenebaatar Quintett im Studio2.
Roland Spiegel
Bildquelle: Béla Fleck Productions
Als Béla Fleck zum Banjo griff, war das Instrument im Jazz weitgehend vergessen. Er musste sich erst einen neuen Raum und Bezugspunkte wie etwa die "Flecktones" schaffen, wo Experimente, neue Verbindungen und übergreifende Projekte Platz finden konnten. Inzwischen geht Fleck noch weit darüber hinaus. Mit Zakir Hussains Tabla, Rakesh Chaurasias Bansuri und Edgar Meyers Kontrabass hat er einen musikalischen Kosmos um sich, der von Bluegrass bis Bollywood und Kammerklassik bis World Jazz reicht. Im Unterschied zum Album "The Melody Of Rhythm", das 2009 Tabla und Banjo mit Symphonieorchester kombinierte, legt "As We Speak" Wert auf Klarheit bis ins Detail. Und der Höreindruck dieses Kollektivs der Eigenheiten ist verblüffend umfassend, trotz stilistischer Spezialitäten kulturübergreifend präsent und zugleich analytisch feinsinnig. Es sei ein Gespräch, meint der Titel. Es wirkt aber eher wie eine künstlerisch faszinierende Erörterung des musikalisch noch Plausiblen, Machbaren.
Ralf Dombrowski
Bildquelle: Edition Records
Auch wenn sie ihre Stücke vom Schlagzeug aus komponiert, rückt Sun-Mi Hong ihr Instrument nicht plakativ in den Vordergrund. Doch die 1990 in Südkorea geborene und seit 2012 in Amsterdam lebende Musikerin ist mit beeindruckend ausdefinierten Klängen und feinsten Nuancen in der Tonentwicklung immer absolut präsent im musikalischen Geschehen, das sich auf einer Skala von ruhig hymnischer Anmutung bis zum jazzrockigen Powerplay entwickelt. Im maximalen musikalischen Selbstausdruck ihres hochdynamischen Spiels ist sie dabei nicht nur mit sich selbst, sondern mit der kompletten Band ganz verbunden. Im Ensemble und mit ihren solistischen Höhenflügen tragen der schottische Trompeter Alistair Payne, der italienische Tenorsaxophonist Nicolò Ricci, die koreanische Pianistin Chaerin Im und der italienische Bassist Alessandro Fongaro zur existenziellen Energie ihrer Kompositionen bei, die im Wechselspiel ruhig melodischer und wild expressiver Passagen in eine Welt komplexer Emotionen führen.
Beate Sampson
Bildquelle: Nils Kugelmann/ Act
Faszinierend, wie viel in den Stücken dieses Albums – zum Beispiel dem sich sofort ins Gemüt bohrenden Titelstück "Stormy Beauty" - in wenigen Sekunden passiert: an reaktionsschneller Interaktion, an witzigen, ja sogar vorwitzigen immer neuen Details. Spannend, die vielen Stimmungswechsel Ton für Ton zu verfolgen. Und so ist es durchweg bei diesem Album: "Stormy Beauty" vom Trio des Münchner Kontrabassisten Nils Kugelmann (geboren 1996). Er gewann im März 2023 den begehrten Europäischen Nachwuchspreis der Internationalen Jazzwoche Burghausen (hier das Preisträgerkonzert im Video) und bestätigte mit diesem wenige Monate darauf erschienenen Trio-Album seine hohe Klasse als Bandleader, Bassist und als Komponist origineller und beiläufig-raffinierter Jazzstücke. Seine Kompositionen sind allesamt sofort zugänglich – und haben durchweg viele versteckte Vertracktheiten. Meisterhaft spielen dabei diese drei Musiker zusammen. Neben Nils Kugelmann, geboren 1996, der Pianist Luca Zambito, ebenfalls noch in seinen Zwanzigern, und der Schlagzeuger Sebastian Wolfgruber, Jahrgang 1992. Ein Trio, das mit spielender Leichtigkeit hohes internationales Niveau erklommen hat – und dessen Musik so voll von geistvoller Spielfreude steckt, dass beim Hören der Funke sofort überspringt.
Roland Spiegel
Bildquelle: Traumton Records
"Masaa" ist das arabische Wort für "Abend". Gemeint ist damit neben der Tageszeit auch die vertraute, zwischenmenschliche Begegnung im Gespräch. Die seit 2011 bestehende Band rund um den, aus dem Libanon stammenden Sänger Rabih Lahoud übersetzt diese Stimmung in energievolle Musik. Auf ihrem fünften Album "Beit" – übersetzt heißt das "Heim" oder "Zuhause" - entwickelt Lahoud gemeinsam mit Trompeter Marcus Rust, Gitarrist Reentko Dirks und Schlagzeuger Demian Kappenstein mitreißende musikalische Erzählformen von großer Strahlkraft und klanglicher Homogenität. Dabei kommt den eigenen Liedern in arabischer und französischer Sprache die Kraft und Modulationsfähigkeit seiner vollen, dunkel tönenden Stimme ebenso zugute wie seine Fähigkeit zu zartesten, zerbrechlichen Tönen und seine enorme Improvisationskunst, die er selbst einmal "Improesie" genannt hat. Das ist Musik, die aus der Erfahrung mit nahöstlichen und arabischen Klangwelten, Klassik und Jazz geschaffen ist und rundum fasziniert.
Beate Sampson
Bildquelle: Blue Note Records
"Where are we", "Wo sind wir?" - das fragt Saxophonist Joshua Redman auf seinem aktuellen Album und er beantwortet die Frage musikalisch auf großartig packende und berührende Art!
Vieles ist neu auf "Where are we": Es ist Redmans erstes Konzeptalbum, denn alle Stücke handeln von Orten in den USA. Es ist sein erstes Album bei "Blue Note", nach über 20 Alben für andere Labels. Es ist das erste Album, auf dem er seine neue Band mit Sängerin Gabrielle Cavassa präsentiert und die Kombination aus Cavassas Stimme und Redmans Tenorsaxophonton ist für sich schon ein Glücksfall!
Und auf "Where are we" ist zum ersten Mal eine Komposition von Redman zu hören, mit der er explizit politisch Stellung bezieht. "After Minneapolis" komponierte Joshua Redman Ende Mai 2020 nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd, dessen Tod ihn im Interview mit BR-KLASSIK sehr bewegte. Die Komposition ist intensiver, aber auch reflektierter Schrei nach Freiheit und schlichtweg ein Meisterwerk. Allein dieses Stück macht "Where are we" schon zu einem Album des Jahres 2023!
Ulrich Habersetzer
Bildquelle: Nonesuch (Warner)
"Ich fühle mich als ein Hybrid, eine Mischung verschiedener Kulturen", sagt die franko-amerikanische Sängerin Cécile McLorin Salvant - DIE Stimme der letzten Jahre, die mit jeder neuen Produktion neue Facetten ihrer Gesangskunst auslotet. Es gibt aktuell wohl kaum eine vielseitigere, neugierigere Sängerin. Ausgehend von ihrer klassischen Stimmschulung singt sie Jazzstandards aus dem Great American Songbook mit einer Frische und Eindringlichkeit, als wären es ihre eigenen Songs. Dazu kommen in den vergangenen Jahren zunehmend eigene Songs, die ihre Inspiration aus ganz unterschiedlichen Feldern beziehen, Folk, Blues, Musiktheater, Varieté oder sogar Geisterhaftes wie auf ihrem Vorgänger-Album "Ghost Song" von 2022. Die aktuelle Produktion versammelt Lieder aus 800 Jahren: französische Chansons stehen neben Troubadour-Liedern aus dem 12.Jahrhundert, mal mit Laute begleitet, mal mit Celesta, Vibraphon oder Synthesizer. Darüber erhebt sich die großartige, stets direkt zu Ihrem Publikum sprechende Stimme Cécile McLorin Salvants, deren Alben Gesamtkunstwerke sind: Die starken Coverillustrationen stammen von der Sängerin persönlich.
Henning Sieverts
Bildquelle: Edition Records
Auf seinem YouTube-Kanal und seiner Website hat Ben Wendel das in der Vergangenheit schon oft gemacht: der kanadisch-amerikanische Saxofonist und Fagottist nahm Klassiker des Jazz im Alleingang auf. Er montierte etliche Tonspuren zu höchst raffinierten a cappella-Kunstwerken. 2023 hat er ein ganzes Album aus dieser Vorgehensweise gewonnen. Aber er blieb im Studio nicht ganz allein. Auch auf "All One" (Edition Records) schichtet Wendel Tenor- und Sopransaxofon, Fagott, ein paar Schlaginstrumente und digitale Sounds zu faszinierenden Klanggebilden aufeinander. Nur nutzt er sie diesmal als engmaschige Teppiche für die Darbietungen diverser Gäste. Er lud den Trompeter Terence Blanchard, die Flötistin Elena Pinderhughes, den Tastenmann Tigran Hamasyan, den Gitarristen Bill Frisell, die Vokalistin Cécile McLoren Salvant und ihren Sangeskollegen José James als Solisten ein. Herausgekommen ist ein Werk, das sentimental, abenteuerlich, reizvoll artifiziell ist und vor Details strotzt.
Ssirus W. Pakzad
Kommentare (2)
Donnerstag, 21.Dezember, 21:08 Uhr
Michael D. Wolff
Favoriten des Jahres
Tolle Auswahl, hat mir einen Abend versüsst und wohl noch etliche weitere!
Donnerstag, 14.Dezember, 13:23 Uhr
Dr. Karl-Heinz Schneider
Jazz
Dies ist eine klasse Zusammenstellung