Im Jahr 1828 torkelt ein 16-jähriger Junge über den Nürnberger Unschlittplatz. Niemand weiß, woher er kommt, und an seinen Namen kann er sich auch erst später erinnern: Kaspar Hauser. Das Rätsel um das wohl berühmteste Findelkind Europas hat den Komponisten Hans Thomalla zu einer Oper inspiriert. Die Uraufführung fand am Wochenende in Freiburg statt.
Bildquelle: © Maurice Korbel
Wenn Komponist und Regisseur zum Schlussapplaus mit Gummistiefeln herauskommen, dann muss auf der Bühne etwas passiert sein. Glitschig und rutschig ist es, überall ist hellgrauer Schlamm verteilt. Kaspar Hauser hat seine Spuren hinterlassen. Es ist der sinnliche Bühnenausdruck für einen, der zeitlebens nicht greifbar war: Kaspar Hauser taucht hier zu Beginn aus einem Schlammloch auf und er wird die von Kopf bis Fuß glänzend glitschige Flüssigkeit von Kopf bis Fuß bis zum Ende der Oper nicht mehr los.
Der Countertenor Xavier Sabata buchstabiert, stammelt und singt sich auch immer wieder - dann glockenrein - durch die Titelrolle. Bewundernswert ist das allein schon, weil ihm ständig die Suppe von der Stirn tropft. Aber auch sonst gibt er eine grandiose Bühnenerscheinung als kindlich-naiver Hauser ab, der von fern an Wagners "reinen Toren" Parsifal erinnert, der aber außer seinem rein körperlichen Da-Sein und dem Wunsch, dazugehören zu wollen, zu wenig Kommunikation in der Lage ist.
Zu sehen ist weder das 19. Jahrhundert noch Nürnberg oder Ansbach, der Ort, an dem Hauser angeblich geboren wurde und wo er im Dezember 1833 den Folgen einer Stichwunde erlag. Eine grellgrüne Wand im Halbrund ist alles, was man sieht. Davor versammeln sich die Zeitzeugen, allerdings im modern städtischen Outfit - bunte Hemden, Stoffhosen, Rollkragen, Kleider -, und versuchen, aus dem grauen Gast, der sich am Boden windet, schlau zu werden.
Wer ist dieser Kaspar Hauser? Das ist die Frage, die die Menschen umtreibt und die sie nicht unbeantwortet lassen wollen. Sie machen Experimente, heucheln Freundschaft, es gibt sogar so etwas wie eine kleine Liebesszene. Zwischendurch halten sie mal Plakate hoch mit den Worten "Wer Bist Du"? die sich umgruppieren lassen zu der Aussage "Du Bist Wer". Dahinter steht aber wohl mindestens genau so dringend die Frage: Wer sind wir? Das Eigene und das Fremde sind das eigentliche Thema dieses Stücks und dieser Inszenierung, ohne platt auf Flüchtlinge oder Ausländer aktualisieren zu müssen. Die leere Bühne erinnert an eine große Projektionsfläche, man könnte auch sagen, an eine "Green Box" wie im Fernsehstudio, eine Wand, auf der jeglicher Bildinhalt darstellbar ist. Allerdings ist der einzige Eindruck, den Kaspar Hauser auf dieser Fläche hinterlässt, graue Schmiere - als er nämlich versucht, den grauen Schlamm an der Wand abzureiben.
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Xavier Sabata als Kaspar Hauser mit dem Ensemble | Bildquelle: © Maurice Korbel
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Roberto Gionfriddo, Sigrun Schell, Xavier Sabata | Bildquelle: © Maurice Korbel
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Xavier Sabata als Kaspar Hauser | Bildquelle: © Maurice Korbel
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Xavier Sabata als Kaspar Hauser mit dem Ensemble | Bildquelle: © Maurice Korbel
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Xavier Sabata als Kaspar Hauser mit dem Ensemble | Bildquelle: © Maurice Korbel
Das funktioniert als szenische Metapher alles ziemlich gut - ist aber auch relativ schnell klar. Man hat genügend Zeit darüber nachzudenken, denn die Musik bietet einem wenig dramatische Entwicklung. Über einem Grundton, einer Art musikalischen Ursuppe, die schon erklingt, bevor es eigentlich losgeht, fächern sich immer wieder irisierende Klangfarben auf, es gibt berückend schöne Inseln aus Saxofon, Streicher- und Harfensounds, aber als Musiktheater-Musik ist die Partitur von Hans Thomalla insgesamt zu wenig greifbar. Und das passt andererseits natürlich wieder irgendwie zu seinem Protagonisten. Sollte die zeitgenössische Musik als oft genug erratisch fremde Erscheinung, von vielen als unverständlich abgelehnt, der heimliche Held des Stückes sein? Dann erscheint die Verknüpfung mit dem allgemein tragischen Schicksal der Figur Kaspar Hauser zumindest fragwürdig.
In Erinnerung bleibt das Schlussbild: Nachdem Kaspar in seinem eigenen Schlammloch ertränkt wurde, errichtet man ihm ein Denkmal, mit seinen Habseligkeiten in der Hand, einem Hut und einem Zettel. Es ist das Abbild des originalen Ansbacher Standbilds mit dem Titel "Das Kind von Europa". Aber aus seinem Mund tropft Blut. Ein grausiges Zukunftsmodell.
Bisher nahmen Historiker an, Kaspar Hauser sei ein verstoßener badischer Erbprinz gewesen. Der Heimatforscher Josef Heindl vermutet allerdings, dass der Findling in Wirklichkeit aus der Region Passau stammt und der uneheliche Sohn des Pfarrers Joseph Hausner war. Als Indizien nennt Heindl unter anderem Hausers Beschreibung vom Kerkeraufenthalt und seinen altbayerischen Dialekt. Der Kurator für Badische Landesgeschichte in Karlsruhe, Oliver Sänger, hält Heindls Einschätzung durchaus für glaubhaft: "Dass Hauser aus Ostbayern stammt, ist durchaus möglich, wie auch einiges auf Tirol hindeutet." Allerdings ist Heindl nicht der Erste, der vorgibt, das Rätsel um Kaspar Hauser gelöst zu haben.