Erich Wolfgang Korngold war ein Wunderkind. Auch als Erwachsener rissen ihn seine Inspirationen oft mit, er schrieb schnell und stets mit einem Bleistift. Dementsprechend viele Fehler geistern seit den 1920ern durch Korngolds Partituren. Eine kritische Gesamtedition will das ändern. Doch wie unterscheiden die Editoren einen "provokanten Akkord" von einem "eindeutigen Fehler"?
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Eine Oper wie Erich Wolfgang Korngolds "Das Wunder der Heliane" einzustudieren, ist eine spannende Aufgabe. Richtig spannend wird es allerdings, wenn in der Partitur "schräge" Töne enthalten sind, von denen man nicht weiß, ob die "so gehören". Dann diskutieren Dirigent und Musiker bis zur Aufführung, welcher Ton nun der richtige ist. So geschehen an der Deutschen Oper Berlin im Jahr 2018, bei der Neuinszenierung der "Heliane". Bei Korngolds bekanntester Oper "Die tote Stadt" wurde das Material seit der Uraufführung 1927 nicht mehr überprüft.
Ziel der Gesamtedition ist es, dass künftig im Schott-Verlag fehlerfreie Notentexte erscheinen. Wobei "künftig" heißt: in 25 Jahren. Denn so lange wird es dauern, sämtliche Texte mit den Autographen abzugleichen – Note für Note. Die meisten Urtexte sind in den USA, und für die Editorinnen und Editoren ist es wichtig, alle Autographen vor Ort anzuschauen. Zentral wird auch sein, Editionsrichtlinien zu entwickeln. Jede Korrektur soll nachvollziehbar und begründet werden. Denn oft wird es keine hundertprozentige Sicherheit geben, wie der Komponist das denn nun gemeint hat.
Wann bin ich so sicher: Das ist ein Fehler, der korrigiert werden sollte? Und wann lasse ich ihn stehen, weil ich keinen Beweis habe, dass das anders gemeint ist?
Editionsleiterin Friederike Wißmann von der Hochschule für Musik und Theater Rostock verantwortet die Instrumentalwerke, etwa das Violinkonzert aus dem Jahr 1947. Arne Stollberg von der Humboldt-Uni Berlin bearbeitet die Bühnenwerke, und ein Team an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main bereitet das umfangreiche Filmmusik-Werk auf. Zu den bekanntesten Soundtracks zählen "Robin Hood, König der Vagabunden" und "Der Seewolf". Hier soll es multimediale "Specials" geben, etwa dass man sich in der digitalen Edition Filmausschnitte direkt ansehen kann.
Als Kind galt der jüdische Komponist Erich Wolfgang Korngold in Wien als zweiter Mozart. In Österreich hatte Korngold viele erfolgreiche Uraufführungen. 1934 wanderte er in die USA aus, wo er in Hollywood Filmsoundtracks komponierte, die bis heute Komponisten wie John Williams inspirieren. Seine Rückkehr nach Europa war von Misserfolgen und Einsamkeit geprägt. Durch seine Hollywood-Kompositionen hatte er sich als "ernsthafter Komponist" in den Augen der europäischen Kritik disqualifiziert. Erst in den letzten Jahren erlebt sein Werk, etwa die Oper "Die tote Stadt", eine Renaissance.
Der Nutzen der kritischen Gesamtedition liegt für die Editoren auf der Hand: In der Praxis können dann mit weit geringerem Aufwand Werke einstudiert und aufgeführt werden. Doch es wird sich damit auch die Wahrnehmung der jüngeren Musikgeschichte ändern: Wo heute ein für viele unzugänglicher Arnold Schönberg als maßgeblich gilt, könnte künftig ein romantisch angehauchter, publikumsfreundlicherer Erich Wolfgang Korngold mehr Raum bekommen. Denn welche Wunderkinder des 20. Jahrhunderts haben so genial den Bogen von der Oper über die Instrumentalmusik bis hin zum Film-Soundtrack gespannt?
Sendung: "Allegro" am 21. Januar 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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