Bei den Salzburger Festspielen frönte Bariton Christian Gerhaher der zentralen Liebe seines Liedsängerlebens: Robert Schumann. Zusammen mit Gerold Huber, seinem ständigen Partner am Klavier, interpretierte er mehrere Liedsammlungen Schumanns. Es war ein bejubelter Abend der großen Kontraste und der vielfältig schattierten Melancholie.
Bildquelle: SF/ Marco Borrelli
Was für ein Interpret ist Christian Gerhaher eigentlich? Ein genuiner Liedersänger? Oder eher ein Lyrikrezitator mit Gesangsstimme? Was ist ihm letztlich wichtiger: das Wort oder der Ton, der Vers oder die Phrase? Gerade darin, dass diese Fragen nicht pauschal zu beantworten sind, liegt seine Kunst – und zugleich auch das, was man beim Hören manchmal ein bisschen anstrengend finden kann. Sicher ist: Das Verhältnis von Text und Musik ist stets flexibel. Zusammen mit Gerold Huber, dem ständigen Pianisten an seiner Seite, bewertet Gerhaher es innerhalb eines einzigen Liedes oft unzählige Male neu – auch und gerade bei Robert Schumann.
Nicht zufällig hatte der junge Schumann Mühe, seine zwei Begabungen und Leidenschaften, also Musik und Literatur, in seinem Leben in eine Hierarchie zu bringen: "Was ich eigentlich bin, weiß ich selbst noch nicht klar. Ob ich ein Dichter bin – denn werden kann man es nie – soll die Nachwelt entscheiden", schrieb der Halbwüchsige. Wenn es je einen Sänger gegeben hat, der den beiden Polen Wort und Ton im Liedschaffen Schumanns mit der gleichen flammenden Hingabe gerecht werden wollte, dann Christian Gerhaher. Der Bariton ist überhaupt der Ansicht, "dass die Literatur von Anfang an das bestimmende Konzept in seinem musikalischen Schaffen war" und "dass Schumann in seiner Instrumentalmusik immer Texte mitgedacht und als Konzept einkomponiert hat". Gerhaher hat sich mit seiner Gesamtaufnahme von Schumanns Liedern 2021 einen echten Lebenstraum erfüllt, und auch bei den Salzburger Festspielen hat er nun ein reines Schumann-Programm verwirklicht – in der gleichen Zusammenstellung, die er in der Woche davor bei den Münchner Opernfestspielen im Prinzregententheater präsentiert hat.
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Rund um den populären Eichendorff-Liederkreis op. 39 fanden sich da mehrere kleine, weniger bekannte Sammlungen, die laut Gerhaher auf keinen Fall in Einzelteile aufgelöst werden sollten, sondern die er ganz bewusst in ihrer von Schumann beabsichtigten, poetischen Zusammenstellung wirken lassen will: Die Fünf Lieder op. 40, die Drei Gesänge op. 83, Romanzen und Balladen III op. 53 (mit "Blondels Lied" und dem "Armen Peter") sowie die Sechs Gedichte von Nikolaus Lenau und Requiem op. 90.
Christian Gerhaher beschäftigt sich intensiv mit den Liedern Robert Schumanns. | Bildquelle: Gregor Hohenberg / Sony Classical Was ist also Gerhaher nur für ein Sänger, bei Schumann zumal? Ganz gewiss gehört er nicht zur Kategorie "Stimmritzenprotz", wie sie einst Leo Slezak ironisch definiert hat: Damit meinte der große Tenor bloße Naturstimmenbesitzer, die sorglos und auf Teufel komm raus damit prunken, was ihnen in die Wiege gelegt wurde, ohne sich weiter viel Gedanken über den Vortrag zu machen. Sie können manchmal in der Oper entsprechend abräumen, im Lied kommen sie nicht weit.
Wobei freilich gerade Christian Gerhaher es auch versteht, Natürlichkeit auf höchster Stufe nachzuahmen. Im dritten Jahrzehnt seiner Laufbahn gräbt sich das künstlerische Profil tiefer ein, verstärken sich die Kontraste vor allem bei den Extremwerten der Ausdruckspalette. Auf der einen Seite führt Gerhaher den Liedgesang also so weit wie möglich an seine häuslichen Ursprünge heran, wie bei einem Musizieren im Familienkreis oder geselliger Runde. Da ist die klare, dem Sprechtonfall abgelauschte Diktion (ohne überbetonte Konsonanten etwa), mit vibratofrei-kunstloser Tongebung ohne jede Scheu vor einer dünnen Linie (ein Beispiel von vielen: "Muttertraum", op. 40/2): Nirgends wird da also von einer unbekümmerten Opernstimme, die gar nicht anders könnte, gewohnheitsmäßig ein imaginäres Orchester übertönt. Auf der anderen Seite steuert Gerhaher Fortissimo-Ausbrüche von ungeschönter Vehemenz an, die einen erschauern lassen ob ihrer Gewalt – etwa in der Hinrichtungsszene von "Der Soldat" (op. 40/3) und zuletzt im "Requiem" von op. 90, bei der Beschwörung der "Himmelspracht" und ihrer "Feiertöne".
Zusammen mit Christian Gerhaher, Gerold Huber und BR-KLASSIK ist eine Gesamteinspielung aller Lieder von Robert Schumann entstanden. Lesen Sie hier ein Interview dazu mit dem Bariton Christian Gerhaher.
Dazwischen liegt durchaus eine Fülle an abgetönten Zwischenwerten, etwa rezitativische Freiheit ("Zwielicht", op. 39/10), auf Schritt und Tritt farblich oder auch deklamatorisch hervorgehobene Wörter ("Gedenke mein!" in "Loreley", op 53/2), simulierte Charaktere in Wechselrede (selbstverständlich im "Waldesgespräch", op. 39/3), auch mal eine schön sich entfaltende Phrase. Aber die Extremwerte sind es, die sich ins Gedächtnis eingraben – und die bei ihrem nicht seltenen Zusammenprall auch etwas überdeutlich wirken können. Gerhahers Vortrag beginnt da momentweise einem Mosaik zu ähneln, das sich von Ton zu Ton – nein: von Wort zu Wort weiterhantelt, wo sich das Ohr weniger als Zuspitzung wünschte, um mehr an poetischem Fluss genießen zu können. Denn die Botschaft kommt schon an.
Seit Jahrzehnten der ständige Klavierpartner von Christian Gerhaher: Gerold Huber. | Bildquelle: Marion Koell Während in Gerhahers Gesang also ständig auch neue Fragen aufgeworfen werden, ist bei Gerold Huber allem Anschein nach immer alles wie von selbst im Reinen, Klaren. Da gibt es keine Mätzchen und kein Schwindeln, er ist immer präsent, ohne sich deshalb gleich mit Ellbogeneinsatz in den Vordergrund drängen zu müssen: Huber beherrscht die Kunst, gleichsam immer schon da zu sein, bevor man überhaupt auf die Idee käme, ihn suchen zu müssen. Ein selbstloser Freund, dessen Charakter auch dann stets fühlbar ist, wenn er gerade nicht im Rampenlicht steht.
Herzlicher Jubel – und zwei Zugaben: die dreigliedrige "Tragödie" nach Heine, op. 64/3 und das melancholiesatte "Tief im Herzen trag ich Pein", op. 138/2.
Sendung: "Allegro" am 2. August 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (2)
Freitag, 04.August, 04:29 Uhr
Trappe
Kritik oder Anpreisung?
Wie auffällig ist hier, dass so viele - wie möchte man sich ausdrücken - Rückmeldungen von Journalisten zu einer Huldigung ausarten.
Fakt ist, dass Gerhaher seinen Zenit überschritten hat; das sah und hörte man schon bei Elias in Berlin, jetzt auch in Salzburg; das, was an Stimme nicht mehr da ist, wird erzählerisch und überinterpretatorisch dargeboten. Das machte Fischer-Dieskau nur in jenen Zeiten, wenn er stimmlich indisponiert war. Ansonsten sind gewisse Phrasierungen und Interpretationen F-D.s unerreicht und singulär.
Gerhahers Stimme im forte ist leider nicht mehr klar und überzeugend, mutet gar mitunter plärrend an.
Mir scheint heute die schreibende Zunft sich nicht mehr groß von der zu unterscheiden, wie ein Plattenlabel seine CDs anpreist.
Mittwoch, 02.August, 10:57 Uhr
Klaus
Superlative sind gefährlich
"Wenn es je einen Sänger gegeben hat, der den beiden Polen Wort und Ton im Liedschaffen Schumanns mit der gleichen flammenden Hingabe gerecht werden wollte, dann Christian Gerhaher. "
Naja, Fischer-Dieskau sollte man nicht so schnell vergessen haben, wie es der Autor anscheinend getan hat.
Wobei dieser bei seiner Gesamtaufnahme mit Eschenbach noch mehr Stimmmaterial hatte als Gerhaher bei seiner, so dass bei Dieskau zweifelsfrei von einer bewussten Zurücknahme zugunsten der Textgestaltung die Rede sein kann - bei Gerhaher kann auch aus der Not eine Tugend gemacht worden sein.