Aus Donizettis schottischer Hochland-Heldin wird in der Regie der Italienerin Ilaria Lanzino ein junger Schwuler, der mit seiner Party-Crowd abhängt und dessen große Liebe am politischen Ehrgeiz seines älteren Bruders scheitert. Das ist so ungewöhnlich wie fesselnd und auf der Höhe der Zeit – auch musikalisch.
Bildquelle: Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg
Kritik
"Lucia di Lammermoor" in Nürnberg
Ja, wenn das so einfach wäre: "Reiß dich zusammen und ändere deine Gefühle", empfiehlt der Gottesmann dem schwulen Luca, aber der sieht sich damit überfordert. Eine Frau heiraten, nur damit der Bruder seine politische Karriere nicht gefährdet, damit die bürgerliche Fassade nicht bröckelt? Nein, das ist zu viel, und so muss diese Liebe unter dem Regenbogen natürlich tragisch enden. "Geh, wohin dein Herz dich trägt", das gilt in dem hier gezeigten Schottland eben noch nicht. Aber wo gilt das überhaupt? Gut, Standesunterschiede sind längst erledigt, aber immer noch stehen genug Hürden zwischen zwei Menschen: Religion, Bildung, Geld, Ideologie.
Bildquelle: Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg Gut, dass die aus Pisa stammende italienische Regisseurin Ilaria Lanzino all das in ihrer Inszenierung von Gaetano Donizettis "Lucia di Lammermoor" höchst aktuell zum Thema macht. Die romantische Heldin Lucia aus dem Roman von Walter Scott ist in diesem Fall also ein junger Mann, der mit einer fröhlichen metrosexuellen Partytruppe abhängt und sich unsterblich in den hübschen Edgardo verliebt hat. Könnte alles so einfach sein: Auf dem Fensterbrett leuchtet die Regenbogenlampe, auf dem T-Shirt wird für die "West Side Story" geworben und das Ballett tanzt dazu ausgelassene Balzrituale. Cool, dass der katalanische Choreograph Valenti Rocamora i Torà seine Truppe buchstäblich auf den Laufsteg schickt, posen lässt, übrigens sogar zu Flitter-Regen, den die EU doch gerade wegen der Mikroplastik-Gefahr verboten hat, zum Unwillen der Dragqueens.
Fast kommt der Eindruck auf, Ilaria Lanzino hatte überhaupt keinen Bock auf Belcanto-Tragödie und gönnt ihrem Luca sogar ein Happy End. Er wird nämlich am Ende nicht wahnsinnig, wie es Donizetti eigentlich vorsieht, sondern träumt zu den Klängen der Glasharmonika von einer besseren Welt (staunenswert hingebungsvoller Spieler des exotischen Instruments: Friedrich Kern). Dafür müssen Luca und sein Freund mit dem Leben büßen. Homosexualität ist eben leider nicht in jedem Fall Privatsache, so die Regisseurin im Programmheft, sondern wird nach wie vor von nicht wenigen als politisches Statement betrachtet, auch als moralisches Ärgernis. Deshalb rücken Ilaria Lanzino und ihre Ausstatterin Emine Güner auch das Bett in die Mitte der Aufmerksamkeit, rundum von Scheinwerfern angestrahlt und von Neugierigen begafft: Auch hier wird die vermeintlich staatstragende Botschaft vermittelt "Reiß dich zusammen und ändere deine Gefühle."
Bildquelle: Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg Eindrucksvoll, wie gut dieses Konzept zu Donizetti passt, wie perfekt es umgesetzt ist, wie beklemmend die eigentlich absurde Romanze dadurch wird. Selbst die viertelstündige Todesszene, die fast immer unfreiwillig komisch wirkt, hat Ilaria Lanzino im Griff. Andromahi Raptis in der Titelpartie hat also eine gänzlich unerwartete Hosenrolle erwischt, die sie schauspielerisch wie stimmlich fesselnd meistert. Da stimmt jede Geste und statt sich in seelenloser Notenakrobatik zu verlieren, kommen die Spitzentöne wie traurige Anklagen. Dasselbe gilt für ihren Liebhaber Edgardo, den Sergej Nikolaev spielt. Ein XXL-Tenor ist er nicht, aber seine Schüchternheit, auch seine etwas zurückgenommene Stimme machen ihn absolut glaubwürdig als verunsicherten schwulen Lover.
Ganz groß trumpft Ivan Krutikow als skrupelloser Politiker Enrico auf, dem es nur um die Fassade und seine Wahlprospekte geht. Ein sehens- und hörenswertes Rollenporträt! Der aus Münster stammende Dirigent Jan Croonenbroeck, 1. Kapellmeister in Nürnberg, hat eine enorm emotionale Schlagtechnik: Der Taktstock dient ihm weniger dazu, Rhythmus und Tempo vorzugeben als vielmehr Pirouetten in die Luft zu zeichnen, die natürlich Ausdruckswillen signalisieren, Anteilnahme, Formgebung. Hier geht es mehr um heiß und kalt als um schnell und langsam, was beim Zusehen Freude macht. Und das Klangbild rechtfertigt die impulsive Zeichensprache in jeder Hinsicht. Insgesamt ein gründlich entstaubter, zum prallen Leben erweckter Donizetti auf der Höhe unserer gesellschaftlichen Debatten. Ja, geh, wohin dein Herz dich trägt, aber behalte das Risiko stets im Auge!
Sendung: Allegro am 06.11.2023 um 06:05 Uhr
Kommentare (5)
Montag, 20.November, 23:12 Uhr
Stefan Reuther
Luca di Lammeroor
Am 19.11. besuchte ich die hier in der Rezension besprochene Oper und kann dem Schreiber nur Recht geben. Es war eine der besten, stimmigsten und tief zu Herzen gehende Aufführung. Es war zsar eine ungewöhnliche ( abwer nicht gewöhnungsbedürftige) Neudeutung der Geschichte einer erzwungenen Ehe, aber von Regieeinfall zu Regieinfall hat sie ihre Logike behalten. Überragend die Sänger-Darstellerin des Luca. Wer es nicht gesehen und gehört hat,dem sei geraten es so lange noch möglich, das nachzuholen.
Mittwoch, 08.November, 08:39 Uhr
Blank
Murks
Werden bald nur noch die Opernnamen herhalten, um den Mist zeigen zu können, denen sich limitierte Regisseure ausdenken. Wer geht denn in so einen Murks?
Montag, 06.November, 23:54 Uhr
Siegfried Metzger
Danke, Peter!
......So ist es. Sie sprechen mir aus der Seele!
Montag, 06.November, 18:10 Uhr
Gufo
Lucia
Subventionen sind Steuergelder, die auch von denen stammen,die mit derartigen, teilweise abstrusen Inszenierungen nichts, aber auch gar nichts anfangen können.Bund, Land und Kommunen müssen endlich, so wie in Italien,alle Subventionen streichen, um eine Benachteiligung der konservativen Opernbesucher aus der Welt zu schaffen. Dann wird sich zeigen,wer bereit ist,für die von ihm favorisierte Inszenierung den entsprechenden Preis zu berappen.
Montag, 06.November, 16:23 Uhr
Peter
Lucia di Lammermoor in Nürnberg
Was heißt hier entstaubt? Die Oper ist nach einem Roman geschrieben und der ist so, wie er ist, nämlich nicht so, wie es in der Handlung der"entstaubten" Aufführung nun produziert wird. Muss man sich wundern, wenn die Theater immer leerer werden? Wann merkt man endlich, dass der Besucherschwund keine Frage der Inflation, sondern eine Abstimmung mit den Füßen ist, weil das Publikum derartige Modernisierungen, die immer verschrobener werden, langsam satt hat?