Franz Welser-Möst hat für sein drittes Neujahrskonzert mit den Wiener Philharmonikern ein Programm ausgewählt, das fast zur Gänze aus Erstaufführungen in diesem Rahmen bestand: Das galt zunächst als gewisses Risiko, hat sich aber künstlerisch voll gelohnt. Vor allem der oft unterschätzte Joseph Strauß kommt zu seinem Recht. Und Welser-Möst und die Philharmoniker zeigen ein fast familiäres Einverständnis, das in dieser Form als rar gelten muss.
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Fast nur Debütanten, den ganzen Vormittag lang: Geht das überhaupt, ist das nicht ein enormes Risiko beim vielleicht traditionellsten, soll heißen: am stärksten dem Gewohnten verpflichteten Konzert der Klassik? Oder sagen wir besser: der leichten Klassik, an der gerade das Leichte so schwer zu benennen und noch schwerer zu treffen ist? Ja, das ging an diesem 1. Januar 2023 – und es rief zuletzt wie gewohnt im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins die üblichen, herzlichen Begeisterungsstürme hervor. Denn die Neulinge waren nicht etwa des Walzertakts kaum kundige Musiker, sondern: Kompositionen, die bislang noch nie in einem Neujahrskonzert erklungen sind.
Im ersten Pandemie-Lockdown hatte Franz Welser-Möst auch dafür Zeit, seine Bibliothek mit Werken der Strauß-Dynastie und Joseph Lanner auf kaum bekannte Schätze hin zu durchforsten. Als die Einladung zum Neujahrskonzert 2023 an ihn erging, hatte er bereits eine Liste, die er mit den bislang aufgeführten Werken abgleichen konnte. Und dann, so erzählte er in den letzten Tagen mehrfach, habe ihn der Ehrgeiz gepackt: ein Konzert mit Musik sollte es werden, die fast vollständig neu sein würde für das Millionenpublikum, das in mehr als 100 Ländern per Liveübertragung mit dabei ist. – Ein Risiko?
Zunächst gab es für diesen Plan durchaus Skepsis aus dem Orchester. Aber Welser-Möst ist einer, von dem sich die Philharmoniker überzeugen lassen. Das war historisch nicht sofort so, aber es gilt nun schon seit vielen Jahren – und immer mehr, wie’s den Anschein hat. Herbert von Karajan, selbst nur einmal Gast am Neujahrskonzertpult, 1987, hat ja gerne erzählt, wodurch sich die Berliner von den Wiener Philharmonikern unterscheiden würden: Würde er in Berlin verlangen, dass die Musiker (Gendern damals nicht notwendig) den rechten Fuß zehn Zentimeter vorschieben, würden sie es einfach tun. Die Wiener vielleicht auch, aber nicht ohne die skeptische Frage: Warum?
Das Warum war diesmal rasch beantwortet: Weil da großartige Werke neben den allseits bekannten Gustostückerl schlummern. 13 vollgültige Premieren und eine halbe gab es im endgültigen Programm zu bewundern: Die zuletzt 1984 unter Lorin Maazel gespielte Polka francaise "Heiterer Muth" op. 281 kam in einer neuen Vokalfassung zu Ehren. Dabei bestätigte sich im großen Ganzen, was an Spezifika der drei Strauß-Brüder schon bekannt war: Neben dem zu Recht populären Johann ("Schani") ist Josef ("Pepi") mit seinem untrüglichen melodisch-harmonischen Gespür der Liebling der Kenner jeglichen Geschlechts, während bei Eduard ("Edi"), dem jüngsten, oft ein besonders explosiver Funke in seinen Schnellpolkas zündet ("Wer tanzt mit?" op. 251, "Auf und davon" op. 73).
Aber: Wie sich das diesmal bestätigt hat! Greifen wir nur Josef Strauß’ Walzer heraus: Wie elegant da in den "Heldengedichten" op. 87 der militärische Pomp von Trommelschlägen und Fanfaren sich immer wieder in zärtliches Sentiment auflöst, wie schwerelos und ohne derbes Gerassel da auch die Säbel der Herren mit übers Parkett drehen! In "Perlen der Liebe" op. 39 mischt er oft dunkle Farben ab, Melancholie regiert zwischen Pianissimo-Zärtlichkeit und dramatischen Aufwallungen: Auch eine vergossene Träne muss da als Perle gelten. Und in "Zeisserln" op. 114 geht es natürlich nicht vordergründig um das mit Vogelpfeifen beigesteuerte Gezwitscher, sondern darum, wie gewandt sich die mit Überschlags-Motiven angereicherte Melodie am Vogelgesang orientiert, Natur in Kunst überführt. Und dann noch dieses kapriziös-dramatische, unberechenbare "Allegro fantastique", ein Bravourstück aus packenden Szenen und einer eingestreuten Pastorale: ein echter Reißer.
Bekannte Melodien von der Operettenbühne waren mit Johann Strauß’ "Zigeunerbaron-Quadrille" op. 442 und Carl Michael Ziehers Walzer "In lauschiger Nacht" op. 448 vertreten, einer oft puzzleartig neu zusammengesetzten, exquisit instrumentierten Wiederverwertung der Operette "Die Landstreicher". Ähnlich entzückend Josefs "Angelica-Polka" op. 123 und die "Glocken-Polka" mit Galopp von Joseph Hellmesberger dem Jüngeren.
Franz Welser-Möst gelang nach 2011 und 2013 nun beim dritten Mal, trotz oder gerade wegen dieser beglückenden Raritätenparade, sein bisher bestes Neujahrskonzert. Wann hat man ihn zuletzt so locker und gut gelaunt, so genießerisch erlebt wie diesmal? Welser-Möst am Pult der Wiener Philharmoniker: Das ist im Gegensatz zu manch anderen bevorzugten Dirigenten des Orchesters längst kein illustrer Gast (mehr), bei dem das Reizvolle in Grad und Art der Anverwandlung ans philharmonische Musizierideal liegt und an dem, was er vielleicht Neues, Anderes mitbringt. Stattdessen wird man Zeuge eines geradezu familiär zu nennenden Einvernehmens. Das kann mitunter dazu führen, dass sich vorübergehend beide bescheiden zurücknehmen, dem anderen den Vortritt lassen wollen.
Nicht immer stellen sich deshalb zuverlässig Wunder ein: Josefs Walzer "Aquarellen" op. 258 fehlte zum Beispiel der atemberaubende Schwung. Aber es erfreute doch stets zumindest eine lächelnde Selbstverständlichkeit, ein gemeinsames Geschehenlassen. Und in den schönsten Momenten war zu erleben, wie da ein gemeinsamer Instinkt herrschte für den Unterschied zwischen zufälliger Schlampigkeit und einem aufregenden, kreativen Ungefähr. Kontrolliert, aber nicht rigide; überlegt, doch nie kalkuliert wirkt diese intime Zusammenarbeit nunmehr – und Rubato-Nuancen, man vernahm es mit Befriedigung, gelingen eben dann perfekt, wenn man im Moment nicht über sie nachdenkt, nachdenken muss. Weder auf dem Podium noch im Publikum.
Hörbar bewegt zitierte Welser-Möst in einer knappen englischen Ansprache vor der "Schönen blauen Donau" dann Friedrich Nietzsche ("Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum") – und wünschte "mit großem Optimismus" zusammen mit den Philharmonikern das traditionelle "Prosit Neujahr!" Und der Radetzky-Marsch? Den ließ er einen Tick gemächlicher spielen als gewöhnlich, "gmiatlicher", wie man in Wien sagt. Alles Martialische verflüchtigte sich dadurch. Und als das Publikum beim traditionellen, ungewöhnlich gut koordinierten Mitklatschen schleppte, reichte eine kleine Geste Welser-Mösts, und das Einvernehmen war wieder hergestellt.
Christian Thielemann beim Neujahrskonzert 2019 | Bildquelle: picture-alliance/dpa 2024 wird Christian Thielemann am Neujahrskonzertpult stehen, zum zweiten Mal. Warum schon wieder keine Dirigentin? Die Frage wird selbstverständlich von Jahr zu Jahr dringlicher gestellt, ist aber zugleich müßig. Und sie lässt sich jedenfalls nicht mit dem Argument abschmettern, es habe in diesem Jahr ohnehin die stärkste weibliche Beteiligung in der Geschichte gegeben – durch "Heiterer Muth", gesungen von den Wiener Sängerknaben, verstärkt um deren Mädchenzweig, die 2004 gegründeten Wiener Chormädchen.
Tatsache ist: Die Wiener Philharmoniker suchen sich für ihre eigenen Konzerte die Leute am Pult sehr genau aus. Versuchsweise mit Neuen zusammenspannen lassen sie sich am ehesten in Salzburg, bei der Mozartwoche im Januar und den Festspielen im Sommer. Andere lernen sie lieber zunächst in der Wiener Staatsoper kennen, wo sie ja alle gleichsam als Brotberuf im Orchester verpflichtet sind. Der Kreis der bevorzugten Dirigenten, mit dem sie ein enges Verhältnis pflegen, ist klein – weil auch ihre Konzerttermine begrenzt sind.
Eine Einladung zum Neujahrskonzert ist dabei die größte Auszeichnung und zugleich Zeichen für die intimste Stufe der Verbindung: Das Strauß-Repertoire ist für das Orchester die lebendige Verbindung zwischen Franz Schubert und Gustav Mahler. Einer der Gründe, warum Franz Welser-Möst dabei so wichtig geworden ist. Gustavo Dudamel (2017) und Andris Nelsons (2020) waren in den letzten Jahren die jüngsten Debütanten am 1. Januar. Aber bei beiden sind immerhin 10 Jahre vergangen zwischen der Erstbegegnung mit dem Orchester und dem Neujahrskonzert – kontinuierliche Zusammenarbeit in dieser Zeit inklusive. So etwas gilt derzeit für keine einzige Frau. Also heißt es für Dirigentinnen nach wie vor: Bitte warten.
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Clemens Krauss leitet die ersten Neujahrskonzerte von 1939 – mit zweijähriger Unterbrechung (1946 und 1947) – bis 1954. | Bildquelle: Wiener Philharmoniker
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Nach dem Krieg löst der als unbelastet geltende österreichische Dirigent Josef Krips Clemens Krauss für zwei Jahre ab. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Am 1. Januar 1955 beginnt eine neue Ära, als der Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, Willi Boskovsky, die Leitung des Neujahrskonzerts übernimmt. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Willi Boskovsky leitet das Neujahrskonzert 25 Mal – und ist auch bei der ersten Fernsehübertragung 1959 dabei. Hier ein Foto aus dem Jahr 1967 mit einem Blick aufs Orchester vorbei an den Scheinwerfern. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Für den erkrankten Willi Boskovsky beschließen die Wiener Philharmoniker 1980 den designierten Staatsopern-Direktor Lorin Maazel einzuladen. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Lorin Maazel dirigiert sechs Mal hintereinander das Neujahrskonzert bis 1986. Und nochmals in den Jahren 1994, 1996, 1999 und 2005 (hier auf dem Foto). | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Nur ein einziges Neujahrskonzert dirigierte Herbert von Karajan, und zwar im Jahr 1987. Hier probt er mit den Wiener Philharmonikern. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Auf Karajan folgt 1988 der Italiener Claudio Abbado, der das Neujahrskonzert 1991 noch ein zweites Mal dirigiert. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Das Konzert mit Carlos Kleiber 1989 wird von manchen als das beste aller Neujahrskonzerte gewertet. Kleiber kommt 1992 noch ein zweites Mal. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Zubin Mehta dirigiert hier 2015 bereits zum fünften Mal zum Jahreswechsel im Wiener Musikvereinssaal – nach 1990, 1995, 1998 und 2007. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Auch schon sechs Mal eingeladen: Riccardo Muti – nämlich 1993, 1997, 2000, 2004, 2018 und 2021. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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2002 leitet Seiji Ozawa, der im selben Jahr Musikdirektor der Wiener Staatsoper wird, das Neujahrskonzert. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Nikolaus Harnoncourt begeistert mit gewohnter Präzision an den Neujahrstagen 2001 und 2003. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Mit 85 Jahren steht Georges Prêtre 2010 – nach 2008 – zum zweiten Mal am 1. Januar am Pult der Wiener Philharmoniker. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Zum Jahreswechsel 2005 begrüßen die Wiener Philharmoniker Mariss Jansons zum ersten Mal ... | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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... 2016 kommt Jansons – nach 2012 – zum dritten Mal. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Und mit dem 35-jährigen Gustavo Dudamel bekamen die Wiener Philharmoniker 2017 den jüngsten Dirigenten in der Geschichte ihres Neujahrskonzerts. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Andris Nelsons dirigierte das Neujahrskonzert 2020. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Daniel Barenboim nimmt sich bei seinem zweiten Neujahrskonzert (2014 nach 2009) während des "Radetzky-Marsches" Zeit, allen Wiener Philharmonikern persönlich die Hand zu schütteln. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Und 2022 leitet der Argentinier zum dritten Mal das traditionsreiche Konzert. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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2011, gibt Franz Welser-Möst sein Debüt und dirigiert auch 2013 und 2022 das traditionsreiche Konzert. | Bildquelle: picture-alliance/dpa
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Er gibt 2019 seinen Einstand am Pult beim Neujahrskonzert: der gebürtige Berliner Christian Thielemann. 2024 dirigiert er zum zweiten Mal. | Bildquelle: Matthias Creutziger
Eduard Strauß: Wer tanzt mit? Polka schnell, op. 251
Josef Strauß: Heldengedichte. Walzer, op. 87
Johann Strauß II.: Zigeunerbaron-Quadrille, op. 422
Carl Michael Ziehrer: In lauschiger Nacht. Walzer, op. 488
Johann Strauß II.: Frisch heran! Polka schnell, op. 386
Franz von Suppè: Ouvertüre zur Operette "Isabella"
Josef Strauß: Perlen der Liebe. Walzer, op. 39
Josef Strauß: Angelica-Polka. Polka française, op. 123
Eduard Strauß: Auf und davon. Polka schnell, op. 73
Josef Strauß: Heiterer Muth. Polka française, op. 281
Josef Strauß: For ever. Polka schnell, op. 193
Josef Strauß: Zeisserln. Walzer, op. 114
Josef Hellmesberger (Sohn): Glocken-Polka mit Galopp aus dem Ballett Excelsior
Josef Strauß: Allegro fantastique. Orchesterfantasie, Anh. 26b
Josef Strauß: Aquarellen. Walzer, op. 258
Dirigent: Franz Welser-Möst
Orchester: Wiener Philharmoniker
Chor: Wiener Sängerknaben und Wiener Chormädchen
Sendung: "Allegro" am 2. Januar 2023 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (4)
Freitag, 06.Januar, 13:45 Uhr
Jürgen
Dirigentin
Schade, dass der Autor des Artikels es nicht unterlassen kann, uns vermeintlich zu erziehen, dass es an der Zeit für eine weibliche Dirigentin sei, um dem Zeitgeist zu entsprechen. Qualifikation und Auswahlprozess egal. Vielleicht könnte sich Herr Thielemann ja während des nächsten Konzerts für einen Tag als eine Frau identifizieren, um den Journalisten einen Gefallen zu tun. Die Musik ist nebensächlich.
Montag, 02.Januar, 23:13 Uhr
Marina Weiss
Neujahrskonzert Wien
Das diesjährige Neujahrskonzert war sehr schön - dennoch hätte ich mir nicht ganz so viel unbekanntere Werke gewünscht. Das Ballett wurde in der Kritik nicht erwähnt - gehört im TV aber nun einmal dazu und war in diesem Jahr großartig - hat mich sehr getröstet denn beim letzten oder vorletzten Mal war es furchtbar - nicht zum anschauen - diesmal von perfekter Schönheit. Großartig die Nachricht, dass mein absoluter Lieblingsdirigent, nämlich Christian Thielemann im nächsten Jahr das Neujahrskonzert dirigieren wird. Thielemann kann nicht nur Wagner. Nicht nur bei seinem letzten Neujahrskonzert sondern auch in vielen Dresdener Konzerten hat er bewiesen, dass er sehr gut auch die etwas leichtere Muse beherrscht und keineswegs zu steif oder streng dirigiert - sondern elegant und vorzüglich.
Montag, 02.Januar, 12:47 Uhr
Christoph Kriebel
Neujahrskonzert
Es4
war ein Konzert, dass sehr viele nie vergessen werden
Montag, 02.Januar, 10:12 Uhr
Gufo
Neujahrskonzert
Welch Aussagekraft doch in den beiden Bildern steckt ! Welser-Möst:heiter,gelöst,wienerisch-elegant. Thielemann, der Perfektionist, der Wagner- Spezialist, fast preußisch exakt. Wenn letzterer nächstes Jahr am 1.1. die "Wiener" dirigiert,wird er sich an Welser-Möst messen lassen müssen. Dabei könnte es nicht schaden, wenn er den "Grünen Hügel"und das dortige Musikverständnis zumindest für kurze Zeit ausblendet und sich von der Leichtigkeit der Wiener Musik inspirieren lässt.Danke für diese schon fast poetische Kritik, die beste, die ich seit langem gelesen habe.