Der 9. November 1989 überstrahlt als Tag des Mauerfalls alle Geschehnisse rund um die Wendezeit. Doch schon einen Monat zuvor, am 9. Oktober 1989, gab es in Leipzig einen Moment, der heute als ein Wendepunkt hin zur friedlichen Revolution angesehen wird: Kurz vor dem Konzert des Leipziger Gewandhausorchesters verlas der Dirigent Kurt Masur einen Aufruf gegen Gewalt, den Vertreter der DDR-Staatsführung und der Opposition gemeinsam formuliert hatten.
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Der Jubel des Publikums will kein Ende nehmen, als Kurt Masur am 9. Oktober 1989 gegen 20 Uhr die Bühne des Leipziger Gewandhauses betritt. Geradezu frenetisch feiern die Konzertbesucher den Chef des Gewandhausorchesters, bis der sich irgendwann Ruhe erzwingt und "Till Eulenspiegels lustige Streiche" von Richard Strauss zu dirigieren beginnt. Doch auch während der Musik wissen viele im Saal ihre Gefühle kaum zu kanalisieren – auch in den Reihen der Musiker, denn auch deren Nerven liegen mehr als blank.
Sechs Stunden zuvor: Etwa 8.000 Polizisten, Kampfgruppenmitglieder und NVA-Soldaten werden in Leipzigs Innenstadt zusammengezogen. Hundertschaften der Polizei strömen im Laufschritt mit Schlagstöcken, Schutzschilden und Hunden in Richtung Zentrum. Überall in den Nebenstraßen um das Stadtzentrum stehen Armeefahrzeuge. Für 18 Uhr ist in der Nikolaikirche wieder ein Friedensgebet angesetzt, in dessen Nachgang sich in der Woche zuvor etwa 20.000 Menschen zusammengeschlossen hatten, um für Demokratie und Freiheit zu demonstrieren. Für heute rechnet man mit weit mehr Demonstranten. Doch wird es ruhig bleiben? Oder entschließt sich die DDR-Staatsführung zum gewaltsamen Auflösen der Demonstration nach chinesischem Vorbild, wie auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens gut ein Vierteljahr zuvor?
9. Oktober 1989 in Leipzig: Die Demonstraten halten ein Transparent mit den Worten "Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!" | Bildquelle: dpa-Bildfunk In der Leipziger Volkszeitung findet sich lediglich ein abgedruckter Leserbrief. Dort schreibt ein Kommandeur der Kampfgruppen, man sei entschlossen, die "staatsfeindlichen Provokationen" und "konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand". Die Warnung verbreitet sich in Leipzig ebenso schnell wie das Gerücht, Leipziger Krankenhäuser mögen sich an diesem 9. Oktober auf Schussverletzungen einstellen, zusätzliche Blutkonserven bereithalten und medizinisches Personal zu Spät-und Nachtschichten einteilen. Angst und Nervosität liegen in der Luft. Dennoch kommen nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche rund 70.000 Menschen zusammen, um in der Leipziger Innenstadt zu demonstrieren.
Über den Stadtfunk wird ein Aufruf verlesen, der an allen Straßenbahnhaltestellen, auf vielen Straßen und Plätzen der Stadt zu hören ist und kurze Zeit später auch in Kirchen verlesen und im Radio ausgestrahlt wird: Kurt Masur ruft im Namen der "Leipziger Sechs" – er selbst, drei Vertreter der SED-Bezirksleitung, ein Pfarrer und ein Kabarettist – zum Verzicht auf Gewalt auf. "Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird", heißt es im "Aufruf der Leipziger Sechs".
Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.
Etwa 70.000 Menschen haben friedlich auf dem Innenstadtring für Demokratie und Freiheit demonstriert. Armee, Polizei und Sicherheitskräfte ziehen sich zurück. Es bleibt ruhig in der Stadt. Ein Blutvergießen bleibt bei dieser größten Protestdemonstration der DDR seit dem 17. Juni 1953 aus.
Das erste Gespräch zwischen Vertretern des DDR-Regimes und oppositionellen Kräften an diesem Tag war eine absolute Sensation. Bedeutete der Dialog doch auch, Probleme im Land überhaupt erstmal anzuerkennen, anstatt den Unmut der Menschen weiter zu ignorieren und totzuschweigen. Deshalb feierten Konzertbesucher Kurt Masur geradezu frenetisch den Mann, der seine Berühmtheit an diesem Tag nicht nur in den Dienst der Kunst, sondern der gesamten Bevölkerung gestellt hatte. Dank seiner Autorität gelang dem Gewandhauskapellmeister mit dem "Aufruf der Leipziger Sechs", beschwichtigend in die hochbrisante politische Situation einzugreifen. Das ist die Botschaft des Konzertes vom 9. Oktober 1989: Kultur kann Vertrauen gewinnen.
BR-KLASSIK sendet dieses historische Konzert mit dem Leipziger Gewandhausorchester unter Kurt Masur am
9. Oktober 2019 ab 20:05 Uhr.
Das Programm des Konzertes:
Richard Strauss: "Till Eulenspiegels lustige Streiche"
Siegfried Matthus: Konzert für Trompete, Pauken und Orchester
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 2