Der Dirigent Lahav Shani und der Komponist Michael Seltenreich kennen sich seit ihrer Jugend in Tel Aviv. Nun dirigiert Shani die Münchner Philharmoniker mit Seltenreichs Stück "The Prisoner's Dilemma", der darin auch den Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober verarbeitet. Ein Gespräch über Musik und Lebenswelt in Israel.
Bildquelle: Co Merz
BR-KLASSIK: Lahav Shani, Sie und Michael Seltenreich kennen sich seit der Schulzeit. Und jetzt arbeiten Sie nach langer Zeit wieder zusammen. Wie fühlt es sich an?
Lahav Shani: Das ist das erste Mal seit der Gymnasiumszeit, dass wir wieder zusammenarbeiten. Michael war in den letzten Jahren in New York, ich in Berlin. Und als ich hörte, dass ich ein Werk von ihm dirigieren darf, da habe ich mich unglaublich darauf gefreut. Ah, mein alter Freund! Das wird ja was werden! Schon früher hab ich immer gedacht: Er ist so begabt und hat so tolle Ideen, auch bei der Orchestrierung und was die Gefühle in der Musik angeht, die Harmonien. Und genau deshalb war ich enorm neugierig zu sehen, wie er sich entwickelt hat in all den Jahren.
Lahav schafft es, richtig viel musikalische und emotionale Kraft aus dem Orchester herauszuholen. Lahav kann Energie erzeugen!
Michael Seltenreich und Lahav Shani. | Bildquelle: Co Merz
BR-KLASSIK: Michael Seltenreich, hat Sie das irgendwie beeinflusst, als Sie wussten, dass Lahav Shani Ihr Werk dirigieren wird?
Michael Seltenreich: Absolut. Als ich wusste, dass Lahav Shani die Uraufführung dirigieren würde, hat das sehr geholfen. Ich habe mich vor allem daran erinnert, wie er es schafft, richtig viel musikalische und emotionale Kraft aus dem Orchester herauszuholen. Er kann das, auch als Pianist. Lahav kann Energie erzeugen! Also war von dem Moment, als sein Name ins Spiel kam, absolut klar: Ich werde ein Stück voll explosiver Energie schreiben.
Lahav Shani spricht im BR-KLASSIK Interview über seine Vorbilder und seine musikalische Karriere.
BR-KLASSIK: Ist bei diesem Stück, "The Prisoner's Dilemma", das ja unmittelbar nach dem Massaker der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober 2023 entstanden ist, auch eine Form von Vertrauen wichtig? Sie sind beide in Israel aufgewachsen, Sie wissen, wie schwierig es ist, israelischer Staatsbürger zu sein.
Michael Seltenreich: Ganz genau! Allerdings muss ich sagen, dass der Kompositionsauftrag lange vor dem 7. Oktober kam. Damals war auch nur die Rede von einer Zusammenarbeit zwischen dem Luzern-Festival und den Münchner Philharmonikern. Als ich mit dem Stück begann, hatte ich etwas komplett anderes im Kopf.
BR-KLASSIK: Und dann kam der 7. Oktober?
Michael Seltenreich: Ab da kam erst das Israel Philharmonic Orchestra als Partner dazu. Und ab da war es genauso, wie Sie sagen. Lahav und ich sind beide Israelis. Und wir sind beide Israelis, die außerhalb von Israel leben. Das ist eine sehr spezielle Verbindung. In unserem Heimatland ist eine Katastrophe passiert. Wir haben beide Familie in Israel, wir hören davon, wir erleben die Angst. Und wir sind nicht für sie da.
Wir hätten nie gedacht, dass es sich so entwickeln würde, dass der Krieg nun schon fast ein Jahr dauert.
BR-KLASSIK: Wie geht es Ihnen jetzt?
Lahav Shani: Ich glaube, als Michael das Stück geschrieben hat, haben wir alle gedacht, das Massaker war ein Horror und jetzt muss man irgendwas tun. Das kann einfach nicht so weitergehen! Aber wir hätten nie gedacht, dass es sich so entwickeln würde, dass der Krieg nun schon fast ein Jahr dauert. Im Moment ist die Lage schlimm. Und die Stimmung in Israel ist schwierig, weil man an so viele gleichzeitig denkt. An die Geiseln natürlich, an die Opfer des Nova-Festivals. Die Geiseln müssen zuerst zurückkommen. Aber auch unsere Gesellschaft muss das irgendwie überleben. Und für mich ist es genauso wichtig im Moment, dass wir als Israelis wieder zu einer Einheit finden.
BR-KLASSIK überträgt das Konzert von Lahav Shani mit den Münchner Philharmonikern am Mittwoch, 11. September, 2024, ab 20:03 Uhr live im Radio. Danach können Sie das Konzert 30 Tage nachhören.
Solist: Renaud Capuçon, Violine
Unsuk Chin: "Subito con forza"; Henri Dutilleux: Violinkonzert - "L’arbre des songes"; Michael Seltenreich: "The Prisoner‘s Dilemma" (Erstaufführung des Auftragswerkes); Paul Ben-Haim: Sinfonie Nr. 1
BR-KLASSIK: Wie politisch ist Ihre Musik, Michael Seltenreich?
Michael Seltenreich: Das Stück ist für mich, als Komponist, ein dringendes Bedürfnis, eine emotionale Erfahrung auszudrücken, die ich durchlebt habe. Ich bin kein Politiker und möchte das auch nicht sein.
BR-KLASSIK: "The Prisoner's Dilemma" ist ein Begriff aus der Spieltheorie. Was wollen Sie mit diesem Titel sagen?
Noten zu Michael Seltenreichs Stück "The Prisoner's Dilemma" | Bildquelle: Co Merz Michael Seltenreich: Er beschreibt eine Situation, in der man ein Spiel gewinnen will, aber unvollständige Informationen hat. Es gibt also zwei Spieler, die versuchen, den anderen zu besiegen, aber jeder weiß nicht, was der andere tun wird. Ganz wichtig: Bei dem Spiel geht es um lebensverändernde Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen. Das schien mir eine passende Verbindung zum Stück zu sein, weil ja auch Politiker Entscheidungen treffen müssen, ohne zu wissen, was der andere denkt und plant. Aber das ist ja keine Programmmusik. Ich versuche nicht, die Geschichte des 7. Oktober zu erzählen.
Es ist wichtig für uns, eine solche Musik zu haben, die sich direkt mit unserer Zeit beschäftigt.
BR-KLASSIK: Wie fühlen Sie die Musik, Herr Shani? Sie dirigieren dieses Stück jetzt zum zweiten Mal. Trifft es Sie emotional?
Lahav Shani: Es ist hochemotional. Als wir das Stück in Israel aufgeführt haben, hatte das ganze Orchester dasselbe Gefühl. Auch das Publikum. Wahrscheinlich, weil wir wissen, dass es irgendwie vom 7. Oktober beeinflusst ist. Für mich ist zum Beispiel der zweite Satz wie ein Requiem. Wenn dieser Akkord bei den Posaunen kommt, spielt sich eine riesige Tragödie ab. Und kurz davor die Sirene vom Fliegeralarm. Jeder Israeli, der das hört, empfindet die Klänge zu Beginn des zweiten Satzes als Trauma. Ich denke, es ist wichtig für uns, eine solche Musik zu haben, die sich direkt mit unserer Zeit beschäftigt.
BR-KLASSIK: Der letzte versuchte Terroranschlag ist gerade ein paar Tage her hier in München. Wie ist das für Sie, Herr Seltenreich, wenn Sie wissen, dass dieses Stück jetzt zum zweiten Mal in München aufgeführt wird und danach in Luzern?
Paul Ben-Haims Symphonie Nr. 1 auf dem Notenpult der Münchner Philharmoniker | Bildquelle: Co Merz Michael Seltenreich: Das finde ich eine sehr interessante Frage. Weil, während des Komponierens habe ich nicht an ein spezifisches Publikum gedacht. Ich wusste nur, dass das Israel Philharmonic Orchestra das Stück ganz sicher mit Liebe spielen würde. Die Uraufführung im Juli war dann sehr bewegend. Danach habe ich Lahav gefragt: Was glaubst du, hat es unsere Landsleute angesprochen, weil es sie irgendwie betrifft? Wie wird ein deutsches Orchester es aufnehmen, es verstehen? Und wie wird das Stück auf das deutsche Publikum wirken? Diese Fragen habe ich mir immer wieder gestellt, und ich kann kaum erwarten, die Antwort herauszufinden.
BR-KLASSIK: Gibt es in diesem Stück Hoffnung? Das nächste Stück nach der Pause von Paul Ben-Haim, seine 1. Symphonie, hat im zweiten Satz ja auch eine gewisse Angst, aber dennoch große Hoffnung.
Lahav Shani: Die ganze Geschichte von Paul Ben-Haim ist sehr interessant und wichtig für das Publikum zu wissen. Er wurde in München geboren und war bis zu seinem etwa 40. Lebensjahr ein deutscher Komponist und Dirigent, bekannt unter dem Namen Paul Frankenburger. Ben-Haim, was "Sohn von Heinrich" bedeutet, ist der jüdische Name seines Vaters. Jedenfalls musste er 1933 aus Deutschland fliehen und emigrierte nach Palästina. Dort gab es bereits einige gute Musiker, aber noch kein richtiges symphonisches Orchester, das kam erst drei Jahre später.
BR-KLASSIK: Das Israel Philharmonic Orchestra, dessen Chefdirigent Sie auch sind?
Lahav Shani: Genau. 1936 wurde es von Bronislaw Huberman gegründet, und Toscanini war der erste Dirigent. Das war ein großes Ereignis in Tel Aviv und sowieso für Israel. Und für Ben-Haim war das die Gelegenheit, eine Symphonie zu schreiben. Der Zweite Weltkrieg begann, und 1941 beendete er das Stück als erste, in Israel entstandene Symphonie. Der zweite Satz, von dem Sie gesprochen haben, enthält "Psalmen", ist also Gebet und enthält schon eine gewisse Hoffnung. Auch in Michael Seltenreichs tragischem Stück gibt es im letzten Satz Hoffnung. Man hört plötzlich einen wunderschönen Choral von den Bläsern, was sehr suggestiv wirkt, als ob wir so etwas auch erleben könnten. "Chaim" heißt ja Leben. Den Namen "Ben-Chaim" kann man also auch als "Sohn des Lebens" interpretieren.
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